Kapitel 5
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An sich ging Lottchen sehr gerne zu Schule. Sie fand schnell viele neue Freunde und kam gut mit den Lehrern aus. Aber mit dem Lernstoff tat sie sich schwer, wie ich fast jeden Abend feststellen musste, wenn ich ihr bei den Hausaufgaben half. „2 + 3 = …ähm…6?“, grübelte sie und sah mich dann erwartungsvoll an. „Nein, Lottchen, das ist leider nicht richtig“, erwiderte ich geduldig. „Versuch es noch einmal. Du kannst ja mit den Fingern nachzählen.“ Lottchen legte ihr Heft in den Schoß und zählte angestrengt ihre Finger. „2 + 3 =…ach, Mama, ich kann das nicht!“

 
 
 

Frustriert schlug sie auf ihr Heft ein. „Lottchen, das ist doch nicht schlimm. Ich erkläre es dir noch einmal. Hier hast du zwei Finger“, ich hielt meine Hand hoch und deutete auf die ausgestreckten Finger, „und dann kommen noch drei dazu. Und dann musst du nur noch alle abzählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. Fünf, Lottchen, 2 + 3 = 5.“ Missmutig schrieb meine Tochter die Antwort auf. Doch die nächste Aufgabe „4 - 1 = ?„ fiel ihr ebenso schwer. „Mama, ich bin so müde“, sagte sie im weinerlichen Ton. „Und mein Kopf beginnt schon weh zu tun.“ Mein armes kleines Mädchen. „Na gut, Lottchen. Dann geh schon mal hoch und mach dich fürs Bett fertig. Ich rechne die Aufgaben dann für dich aus und du musst morgen früh nur noch die Ergebnisse eintragen. Aber verrate deinem Papa und deinen Lehrern nicht, wie sehr ich dir geholfen habe.“

 
     
 

Lottchen ging erleichtert hinauf ins Badezimmer, und wenig später ging ich zu ihr hinauf, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Sie war so müde, dass sie bereits fest schlief, als das Zimmer verließ. Die Schule setzte ihr wirklich zu. Ich hoffte, dass es mit der Zeit einfacher werden würde. Und während meine Tochter für den nächsten Tag Kraft sammelte, setzte ich mich an den Esszimmertisch und erledigte ihre Hausaufgaben.

 
     
 

Wenn das so weiter ging, würde ich mit Lottchens Lehrern sprechen müssen, denn offenbar überforderten sie mein kleines Mädchen. Zum Glück kam sie dank meiner häufigen Unterstützung noch gut im Unterricht mit. Einige Wochen später fand ich sie am späten Nachmittag an der Staffelei vor, wie sie hektisch ein Bild malte. „Wir müssen das bis morgen fertig malen“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Und dabei muss ich doch noch Schreiben üben. Mami, wie soll ich das bloß nur schaffen?“ Der verzweifelte Ton meiner Tochter zerbrach mir das Herz. „Weist du was, Lottchen, geh du doch schon mal in dein Zimmer und schreib deine Sätze ab und ich werde hier für dich weiter malen. Du bist ja fast schon fertig, also ist es beinah so, also ob du es selbst gemacht hättest.“

 
   
 

Ich muss sie erst davon überzeugen, dass das wirklich in Ordnung war und dass sie nicht schummelte…und wenn, dann nur ein ganz kleines Bisschen. Mein Lottchen war einfach zu ehrlich. Während ich also zu Wasserfarben und Pinsel griff und das Werk meiner Tochter vervollständigte, ging sie in ihr Zimmer und machte fleißig ihre Schreibübungen.

 
 

 

 

 
   
 

Eines Nachmittags pflegte ich gerade die Gemüsebeete im Garten, als Lottchen aufgeregt auf mich zugelaufen kam. „Mami, Mami! Darf ich am Wochenende zu Omi gehen? Bitte, bitte!“

   
   
   

Ich war ein wenig verwirrt. Eigentlich stand schon seit Tagen fest, dass Lottchen am Wochenende zu meinen Eltern fahren sollte. „Aber sicher, doch, Mäuschen“, antwortete ich daher. „Opa und Oma Oxana freuen sich doch schon auf dich. Und Thassilo kann es auch kaum erwarten, dass sein Spielkameradin kommt.“ Doch Lottchen reagierte nicht so, wie ich es mir ausgemalt hatte. „Nein, nicht zu Oma Oxana“, antwortet sie genervt. „Ich will doch zu Omi Elli. Sie hat mir ein neues Puppenhaus gekauft und mit dem will ich das ganze Wochenende spielen. Thassilo will immer nur Ball spielen. Außerdem stinkt es bei Oma Oxana immer nach Kuh und Pferd. Ich will da nicht hin!“

 
   
 

Es schmerzte mich, meine Tochter so von meinen Eltern reden zu hören. Ja, sie lebten auf einen landwirtschaftlichen Betrieb und da blieben die Gerüche nach Tieren nun mal nicht aus. Mir waren sie von klein auf wohl bekannt. Als kleines Mädchen liebte ich es, mit meiner Mutter auf die Rinderweiden in der Sierra Simlone rauszufahren oder mich einfach nur an meine Mutter zu kuscheln, wenn sie abends von den Feldern heim kam. Dieser typische Geruch war irgendwie unweigerlich mit meiner Mama verbunden. Aber auch ohne meine Enttäuschung über die Bevorzugung von Eleonore gegenüber meinen Eltern seitens meiner Tochter ging es einfach nicht an, die Pläne fürs Wochenende so kurzfristig zu ändern. „Mäuschen, wir haben Oma Oxana versprochen, dass du kommst. Sie hat bestimmt schon alles vorbereitet. Du kannst Oma Eleonore ja nächstes Wochenende besuchen, aber dieses Wochenende fährst du zu Oma und Opa.“

 
   
 

Doch davon wollte meine Tochter nichts wissen. „Ich will da aber nicht hin!“, protestierte sie vehement. „Ich will zu Omi Elli! Ich will, ich will, ich will!“ Dabei stampfte sie wütend mit den Füßen in die von mir frisch umgegrabene Erde. „Mäuschen, beruhig dich doch“, bemühte ich mich, auf Lottchen einzureden, und meine Hände besänftigend auf ihre Schultern zu legen. Doch sie schlug meine Hände einfach beiseite.

   
   
 

Und dann begann mein kleiner Liebling zu weinen. „Du bist so gemein zu mir, Mami“, warf sie mir schluchzend vor. „Du hast mich überhaupt nicht lieb. Sonst würdest du mich zu Omi Elli gehen lassen.“

 
     
 

Das war mehr, als ich ertragen konnte. „Mäuschen, ist ja schon gut. Mami hat dich ganz doll lieb. Bitte weine doch nicht mehr.“ Ich drückte Lottchen fest an mich und streichelte und küsste ihr Haar.  Und tatsächlich wurde das Schluchzen meines süßen Spätzchens leiser und leiser. „Und wenn du es so gerne möchtest, dann darfst du am Wochenende nach Schloss Hardsten. Oma und Opa laufen ja nicht weg. Du kannst sie auch nächstes Wochenende besuchen.“

 
 

Das musste ich meinem Mäuschen nicht zweimal sagen. Wie der Wirbelwind stürmte sie mit lautem Jubelgeschrei davon, um ihre Tasche für das Wochenende zu packen. Jetzt musste ich nur noch Mama anrufen und ihr erklären, warum ihre Enkelin nicht zu ihr kommen würde. Und dabei fiel mir auch, dass ich Gespräche dieser Art in den letzten Monaten schon viel zu oft mit meiner Mutter führen musste.

   
 

 

 

 
     
 

Aber zum Glück war Lottchen nicht immer so abweisend gegenüber meiner Familie. Und auch wenn sie mehr als einmal behauptete, Thassilo sei doof, so spielte sie doch erstaunlich gerne und oft mit ihm. In der Grundschule hatte sie neue Freunde gefunden, aber Thassilo war doch der häufigste Gast in unserem Haus. Und egal ob beim Spielen am Puppenhaus…

 
   
   

…oder beim Bauen von Schlössern, Tieren oder gar ägyptischen Monumenten aus Bauklötzen, die beiden hatten viel Spaß miteinander.

   
 

 

 

 
 
   

Einige Tage später erwartete mich eine angenehme Überraschung. Ich war im Garten und schnitt gerade einige Rosen für die Vasen im Esszimmer von unseren Rosensträuchern, als ich die Türglocke hörte. Und wenige Augenblicke später führte unser Hausmädchen Janny meine Tante zu mir auf die Terrasse. „Tante Joanna!“, begrüßte ich die Zwillingsschwester meiner Mutter überschwänglich, „ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist. Wir hätten dich doch sonst zum Dinner eingeladen.“ Meine Tante nahm mich herzlich in den Arm. „Der Besuch war eine spontane Idee“, erklärte meine Tante. „Und ich werde auch nicht lange bleiben, also mach dir bloß keine Umstände.“

 
     

Doch für einen Kaffee blieb genug Zeit. Ich ließ Janny das Gedeck auftragen und wir setzten uns in die warme Vormittagssonne. „Ich bin wegen Magda hier“, erklärte meine Tante und an ihrem strahlenden Gesichtsausdruck erkannte ich sofort, dass es dafür einen positiven Grund geben musste. „Eigentlich sollte ich noch niemandem etwas sagen, aber…Magda ist wieder schwanger.“ Entzückt presste ich die Hände an meine Brust. „Das ist ja wundervoll. Rocky wird sich über ein Geschwisterchen freuen.“ Tante Joanna stimmte mir zu. „Ich bin froh, dass meine Tochter sich in den letzten Jahren so gefestigt hat“, gestand sie mir. „Ich hatte ja so meine Zweifel, wie lange sie es mit Holden aushalten würde…oder er mit ihr. Aber sie scheint in den letzten Jahren wirklich Verantwortungsinn entwickelt zu haben. Ich bin stolz auf sie.“

   
   
   

Wir tranken unseren Kaffee aus und unternahmen dann einen Spaziergang durch den Garten. Tante Joanna bewunderte die Grünanlagen und erkundigte sich nach meinem Wohlbefinden. „Francesco arbeitet viel, du kennst ihn ja“, berichtete ich. „Und Lottchen ist ein wahrer Sonnenschein. Und ich habe auch immer viel zu tun. Zusammen mit Lady Lachsigton organisiere ich demnächst eine Spendengala um Geld für das Obdachlosenheim zu sammeln. Und in etwa einem Monat darf ich Francesco nach Ägypten begleiten. Eine Baufirma aus Rodaklippa hat den Zuschlag für ein Großbauprojekt in Kairo erhalten und Francesco und ich sollen dem Spatenstich beiwohnen.“

 
   

„Ägypten? Das ist so ein wundervolles Land, Klaudia“, schwärmte meine Tante. „Es ist dein erster Besuch, nicht wahr?“ Ich bejahte die Frage „Dann muss du dir unbedingt Zeit nehmen und die Pyramiden besichtigen. Und den Sphinx natürlich. Es ist schon so lange her, dass ich dort war. Früher, in meiner Zeit als Stewardess war ich oft in Ägypten. Und es hat sich mehr als einmal eine Möglichkeit ergeben, dass Land etwas näher zu erkunden. Hach, das waren noch wundervolle Zeiten“, die Augen meiner Tante begannen bei diesen Erinnerungen zu leuchten.

 

 

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kor. 27.12.2015