Kapitel 6
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Oh ja, davon konnte selbst ich bereits ein Liedchen singen. Auch ich merkte langsam aber sicher, wie der Rücken am Morgen schmerzte oder die Füße nach einem langen Tag dick wurden. Und ich war erst 40. Wie musste sich da erst mein Vater mit seinen 76 Jahren fühlen? Dafür war er sogar noch erstaunlich fit, von der Schwerhörigkeit einmal abgesehen. Und nicht alles am Alter war schlecht. „Sky und Tammy haben uns gestern neue Bilder von Lothar und Balduin vorbeigebracht“, erzählte er stolz und holte die Bilder aus dem Wohnzimmerschrank. „Balduin wird nächstes Jahr schon eingeschult. Und siehst du, wie ähnlich er mir sieht? Der Junge kommt ganz nach seinem Opa.“

 
 
 

So erfuhr ich ganz nebenbei auch noch, was sich in den letzten Tagen bei meinem Bruder und seiner Familie ereignet hatte. Papa hätte noch stundenlang weitererzählen können. Doch Mama unterbrach uns, mit einem Teller frischer Pfannkuchen in der Hand und schlug vor, dass wir doch noch die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres genießen und im Garten essen könnten. Nichts lieber als das.

 
 

 

 

   
   
   

Einige Wochen später saß meine Tochter Karlotta im Klassenzimmer. Es war die letzte Stunde und man merkte den Kindern deutlich an, dass ihr Auffassungsvermögen für diesen Tag gegen Null tendierte. Trotzdem mussten sie sich noch durch die langweilige Mathematikstunde bei Frau Abel durchkämpfen.

 
   
 

„Pst, Shamika“, flüsterte Karlotta ihrer Sitznachbarin zu, als sie sich gerade von der Lehrerin unbeobachtet fühlte. „Gib an die anderen weiter, dass wir uns heut um vier auf dem Spielplatz treffen wollen. Julian hat behauptet, er kann Bier besorgen. Das wird ein super Nachmittag!“

 
   
 

„Karlotta, was gibt es denn da zu tuscheln?“, unterbrach sie die anklagende Stimme von Frau Abel. Offenbar war Karlotta in der letzten Reihe doch nicht so versteckt, wie sie geglaubt hatte. „Wenn es so wichtig ist, dass du dafür meinen Unterricht störst, dann möchte der Rest der Klasse sicher auch erfahren, worum es geht.“ Verlegen kratzte sich meine Tochter  am Hinterkopf. „Verzeihen Sie, Frau Abel“, erwiderte sie höflich. „Shamika hat die Aufgabe nicht ganz verstanden und ich wollte ihr nur kurz helfen.“

 
   
 

Genervt verdrehte Shamika die Augen. Das war mal wieder so typisch. Da quatschte Liz sie einfach voll und am Ende stand sie als die Dumme da, die nicht einmal diese simplen Gleichungen lösen konnte. Wobei, so simpel waren die gar nicht für sie, aber das musste Liz Frau Abel doch nicht direkt auf die Nase binden. Jetzt würde sie mündlich bestimmt wieder nur eine Drei bekommen. Aber natürlich beklagte sie sich nicht bei Karlotta, schließlich war diese ihre beste Freundin und die Anführerin ihrer Clique. Wenn jemand sich so etwas herausnehmen durfte, dann doch ganz sicher Liz.

   
   
   

Vielleicht lag es an dem Gesichtsausdruck von Shamika oder weil Frau Abel meine Tochter inzwischen zu gut kannte, aber so ganz wollte sie die Geschichte nicht glauben. „Nun denn, Karlotta, da du die Lösung ja offenbar schon kennst, dann komm nach vorne an das Whiteboard und zeige sie uns. Die Klasse wird es dir danken.“ Karlotta schaute ihre Lehrerin mit einem Blick an, der deutlich zeigte, wie sehr sie sich durch deren unausgesprochene aber deutliche Beschuldigung gelogen zu haben verletzt fühlte.

 
   
 

Aber ohne weitere Proteste stand sie von ihrem Platz auf und ging zur Tafel. Und dann löste sie ohne Schwierigkeiten die von Frau Abel zuvor angeschriebene Gleichung und erklärte der Klasse auch noch klar und verständlich den Lösungsweg.  „Ja das ist…richtig“, musste Frau Abel eingestehen, nachdem sie die Lösung kontrolliert hatte. Widerwillig fügte sie hinzu: „Das hast du gut gemacht, Karlotta. Bitte setzt dich wieder.“

 
 

 
 

Karlotta hörte genau heraus, wie schwer diese Worte ihrer Lehrerin über die Lippen kamen. Frau Abel schäumte wahrscheinlich innerlich vor Wut. Und es freute Karlotta, ihre Lehrerin so zu sehen. Diese dumme Kuh würde es nicht schaffen, ihr ans Bein zu pinkeln. Da musste sie schon früher aufstehen. Karlotta würde weiter mit ihr spielen, sie bei jeder Gelegenheit provozieren und dann wieder die unschuldige, brave Schülerin mimen, der man einfach nichts vorwerfen konnte.

   
 

 

 

Teil 4

 
   
   

Die Mathestunde  zog sich noch endlos hin. Doch irgendwann erlöste die Schulglocke die Kinder und das Wochenende konnte beginnen. Trotz der Unterbrechung durch Frau Abel war die Nachricht, dass man sich nachher auf dem Spielplatz treffen wollte, erfolgreich unter das Volk gebracht worden. Karlotta kam kurz nach Hause, schlang hastig ein Butterbrot hinunter und erzählte mir, dass sie zu Shamika gehen werde und spätestens um 21 Uhr wieder zurück wäre. Da es Freitag war, hatte ich nichts dagegen einzuwenden. Aber natürlich ging sie nicht zu Shamika, sondern ging wie verabredet zu Spielplatz, wo sie und ihre Freunde sich schon des Öfteren getroffen hatte. Alle anderen waren auch schon da. Es fehlte nur noch Julian. Also rief Karlotta ihn an, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen „Hast du das Bier besorgt? Wir warten alle schon.“ „Ich bin gleich da, Liz. Mein Bruder hat uns zwei Sixpacks besorgt, aber ich musste erst meine Eltern los werden. Ich bin in ein paar Minuten bei euch.“

 
   

Julian hatte nicht gelogen. Mit den beiden Sixpacks in der Hand kam er auf die Gruppe zu. „Du bist echt der Beste, Julian“, lobt Karlotta ihren Freund und sofort scharte sich die gesamte Gruppe um ihn. „Habt ihr Plastikbecher dabei?“, frage er in die Runde. „Klar“, grinste Annabelle, „wir sind schließlich keine Barbaren, die aus der Flasche trinken.“

 
   
 

Während die anderen bereits die Plastikbecher hervorholten und die ersten Bierflaschen öffneten, nahm Thassilo seine Cousine unauffällig beiseite. „Liz, meinst du wirklich, dass das hier eine gute Idee ist? Bier? Und dann auch noch auf einem Spielplatz? Was wenn wir erwischt werden?“

 
     
 

Zu Erwiderung machte Karlotta nur eine wegwerfende Handbewegung. „Thass, was bist du denn für ein Schisser?“, fragte sie. „Bist du zwölf, oder was? Bei ein bisschen Bier ist doch nichts dabei. In zwei Jahren können wir es sogar ganz offiziell überall kaufen. So schlimm kann es also nicht sein. Außerdem sieh dich um, hier ist doch keiner. Wir haben uns in dieser Ecke schon öfter getroffen und hierhin verirrt sich nie jemand. Sei also ganz unbesorgt.“

 
   
   

So wie das bei Teenagern nun einmal ist, konnte Thassilo dem Gruppenzwang nicht lange standhalten. Als alle ihren Becher Bier in der Hand hatten, griff auch er zu. Der erste Schluck schmeckte noch widerlich. Als er aber sah, dass die anderen trotz des bitteren Geschmacks keine Miene verzogen, selbst die Mädchen nicht, riss er sich zusammen und trank das Bier. Und mit jedem Schluck wurde der Geschmack weniger unangenehm.

   
   
 

Und die Stimmung der Kinder wurde ausgelassener. Sie begannen zu scherzen, laut zu lachen und zu schreien. „Ich will aufs Trampolin!“, rief Karlotta plötzlich. „Wer macht alles mit?“ Ein lautes Gewirr aus „Ich“-Rufen ertönte und die Kinder lieferten sich einen Wettlauf zu den beiden Trampolinen auf der anderen Seite des Spielplatzes.

     
 

Der Lärm, den die Teenager-Horde auf dem Trampolin veranstaltete, blieb auch den anderen Besuchern des Spielplatzes nicht verborgen. So manch eine Mutter oder Großmutter schaute hinüber zu den Halbwüchsigen, die auf dem Trampolin randalierten. Aber da sie sich noch von den Spielgeräten für die jüngeren Kinder fernhielten, wagte keiner etwas zu sagen.

   
   
 

Nach einigen Minuten brauchte Karlotta eine Pause von dem Gehüpfe. Während also Annabelle ihren Platz auf dem Trampolin einnahm, sah Karlotta sich auf dem Spielplatz um. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Jungen, etwa acht Jahre alt, der mit einer Pappkrone auf dem Kopf und einem Zepter in der Hand auf einem Stuhl stand und mit der Luft redete. So ein Vollidiot, dachte Karlotta und ließ ihre Fingerknöchel knacken. Wer sich so lächerlich verkleidet in die Öffentlichkeit wagt, der hat es doch auf eine Abreibung angelegt.

 
     
 

Kurzentschlossen ging sie auf den Jungen zu. „Was bist du den für eine Witzfigur?“, fragte sie provozierend. Verunsichert schaute sich der Junge um. Meinte das Mädchen etwa ihn? Er hatte doch gar nichts gemacht. „Ich…ich spiel hier nur“, stammelte er verschüchtert und stieg vom Stuhl hinunter. „Na, willst du jetzt zu deiner Mama laufen, du kleiner Schwächling“, setzte Karlotta ihre Drohungen fort. „Nein…ich…ich bin alleine hier. Ich wohne nicht weit weg“, stotterte der Junge. Und Karlotta grinste. Perfekt, wenn die Mutter nicht hier war, dann brauchte sie sich auch keine Sorgen zu machen, dass es Ärger geben könnte. Drohend baute sie sich vor ihm auf. „Kleine Trottel wie du haben eins auf den Deckel verdient.“ „Was habe ich denn gemacht?“, schluchzte der Junge. „Was du gemacht hast? Was du gemacht hast!? Es reicht das du mit deiner Anwesenheit meine Augen beleidigst!“

 

 

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kor. 27.10.2023