Kapitel 6
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 „Ich bin froh, dass du das einsiehst, Karlotta. Aber leider war das nicht dein einziges Fehlverhalten am gestrigen Abend.“ Bei diesen Worten legte Francesco eine Mappe vor Karlotta auf den Schreibtisch und öffnete sie. „Diese Fotos hat mir ein Papparazzo heute Morgen zukommen lassen. Wie du siehst, wurde dein gestriges Abenteuer genauestens dokumentiert.“ Karlottas Augen waren schreckgeweitet. Sie hatte nicht mitbekommen, dass sich ein Fotograf auf dem Spielplatz befunden hatte. Und auch ich war geschockt, denn bis zu diesem Augenblick hatte ich nichts von der Existenz dieser Fotos gewusst. „Werden die Bilder etwa in der Zeitung erscheinen“, fragte ich panisch. Ich konnte die Schlagzeilen schon deutlich vor mir sehen. Adelssprössling schlägt über die Stränge. Die Presse würde mein kleines Mädchen in einem ganz falschen Licht darstellen und ihren Ruf dauerhaft schädigen.

 
 
 

Doch zum Glück konnte Francesco Entwarnung geben. „Der Fotograf wollte die Bilder der Zeitung verkaufen. Aber ich habe einen Deal mit ihm aushandeln können. Im Austausch für die Bilder und alle Negative bekommt er exklusiv den Zuschlag als Fotograf bei den nächsten Galas im Rathaus. Das ist für ihn anscheinend lukrativer als die Bilder an die Lokalpresse zu verkaufen.“ Erleichtert atmete ich aus und auch Lottchen schien ein Stein vom Herzen zu fallen. Aber nur für einen kurzen Augenblick, denn nun geriet Francesco erst richtig in Rage. „Du brauchst gar nicht so erleichtert zu sein, Karlotta Elisabeta! Du hattest einfach nur Glück. Wahnsinniges Glück. Verdammt, du bist die Tochter des Lords von Rodaklippa! So ein Benehmen kannst du dir nicht erlauben. Bei anderen geht das vielleicht als kleine Jugendsünde durch, aber dir wird man ein solches Fehlverhalten auf ewig anlasten. So etwas darfst du dir nicht erlauben. Eigentlich dachte ich, deine Mutter und ich hätten dir das frühzeitig beigebracht.“

 
     
 

„Und jetzt will ich wissen, was genau passiert ist! Und keine Ausflüchte!“ Karlotta nickte eingeschüchtert. „Von wem war das Bier?“ „Ehrlich, Papa, ich weiß es nicht. Wir wollten uns einfach auf dem Spielplatz treffen. Zumindest dachte ich das. Und auf einmal war das Bier da. Ich habe nicht gesehen, wer es mitgebracht hat. Wirklich! Ich wollte erst auch nichts trinken…aber Thassilo erzählte, dass er am Strand von Paradiso schon öfter mal Bier getrunken hätte, zusammen mit seinen Surfer-Freunden. Und da wollte ich es auch probieren.“

 
     
 

„Ich weiß, dass es ein Fehler war. Es tut mir furchtbar, furchtbar leid. Und ich verspreche, so etwas nie wieder zu tun.“ Reumütig blickte mein kleines Mädchen abwechselnd mich und dann ihren Vater an. „Das will ich sehr hoffen“, entgegnete Francesco. „Aber Strafe muss sein. Du hast für zwei Wochen Hausarrest. Janny wird dich von der Schule abholen und direkt nach Hause begleiten. Außerdem gibst du für diese Zeit dein Smartphone ab. Du bekommst für den Notfall ein altes Handy, auf dem nur die wichtigsten Nummern freigeschaltet sind. Und der Computer in deinem Zimmer kommt auch weg. Für die Schule darfst du gerne unter der Aufsicht deiner Mutter den Laptop im Wohnzimmer benutzen.“ Instinktiv wollte Karlotta zum Protest ansetzen, aber dann seufzte sie nur schwer und akzeptieret mit den Worten „Ja Papa“ ihre Strafe.

 
   
 

Nachdem Lottchen das Zimmer verlassen hatte, setzte sich Francesco sichtlich ermattet zu mir auf das Sofa. „Ist die Strafe nicht ein bisschen zu hart?“, fragte ich besorgt um das Wohlergehen meines Mädchens. Doch Francesco schüttelt den Kopf. „Ohne Strafe wird sie aus ihrem Fehlverhalten nichts lernen. Und es sind nur zwei Wochen. Ich hoffe, es wird ihr für die Zukunft eine Lehre sein.“ „Und sie hat Thassilo erwähnt. Er war also auch dabei?“ „Ja, auf den Fotos des Paparazzos ist er deutlich zu erkennen. Und auch er hat Bier getrunken.“ Bekümmert seufzte ich. „Dann muss ich dringend mit meinem Bruder sprechen. Laut Lottchens Bericht hat er ja nicht zum ersten Mal Alkohol getrunken. Mein Gott, er ist doch erst Vierzehn.“

 
 

 

 

 
   
 

Ich musst mit meinem Bruder Sky und seiner Frau darüber sprechen, dass ihr vierzehnjähriger Sohn Thassilo Bier getrunken hatte und darüber hinaus auch noch meine Tochter dazu überredet hatte, das gleiche zu tun. Am Sonntag wollte ich meinen Bruder und seine Familie allerdings nicht belästigen. Daher kündigte ich meinen Besuch erst für Montag an. Tammy war nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes Taylor vor wenigen Monaten noch in Elternzeit und deshalb auch tagsüber zuhause. Sie beabsichtigte wieder zu arbeiten, sobald Balduin, ihr Zweitältester, nächstes Jahr in die Schule kam. Ihr Zweitjüngster, Lothar, würde dann in den Kindergarten gehen und Taylor konnte zu einer Tagesmutter. Ich bewunderte meine Schwägerin dafür, wie gut sie ihren Alltag mit vier Kindern bewältigte. Als ich am Haus meines Bruders eintraf, waren Tammy und die Kinder im Garten. Ein Azorenhoch bescherte uns für diese Jahreszeit ungewöhnlich warmes Wetter und meine Schwägerin war froh, dass die Jungs sich noch nach Herzenslust draußen austoben konnten.

   
   
   

„Hallo Tante Klaudia!“, begrüßte Balduin mich fröhlich und schlang sofort seien Arme um meine Taille. Lothar hingegen vergrub schüchtern sein Köpfchen in der Brust seiner Mutter. Er brauchte immer einen Moment, bis er auftaute, aber dann war er ein offenes und liebes Kind. „Na, Balduin, möchtest du ein Eis haben?“, fragte ich meinen älteren Neffen. „Ich habe den Eiswagen nur ein paar Häuser weiter gesehen.“ „Darf ich, Mama?“, fragt Balduin seine Mutter mit großen Augen. Tammy hatte nichts dagegen und so konnte mein Neffe sich sein Lieblingseis aussuchen.

 
   
 

Während Balduin draußen sein Eis schleckte, folgte ich Tammy ins Haus. Lothar setzte sie auf dem flauschigen Wohnzimmerteppich ab. „Möchtest du einen Kaffee, Klaudia?“, fragte sie anschließend. „Gerne“, antwortete ich. Während meine Schwägerin die Maschine bediente, merkte ich, wie mir langsam unbehaglich wurde. Ich fürchtete mich zunehmend vor dem Gespräch, was gleich folgen würde.

 
   
 

Wir fiel es noch nie leicht, Menschen direkt auf ihre negativen Eigenschaften anzusprechen. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um Menschen handelte, die mir viel bedeuteten. Deshalb hatte ich mir für den Besuch auch den Vormittag ausgesucht, wenn ich sicher sein konnte, dass mein Neffe Thassilo in der Schule war. Und ich wolle auch lieber erst einmal nur mit Tamara und nicht mit meinem Bruder über Thassilo sprechen. Aber leider ging zumindest der letzte Teil des Plans nicht ganz auf. „Schatz, kommst du runter?“, rief Tamara, als der Kaffee fertig war. „Wir haben Besuch. Deine Schwester ist hier.“ Wie sich rausstellte, hatte mein Bruder heute einen Home-Office-Tag eingelegt. Und ein kleines Päuschen konnte er jetzt gut gebrauchen und gesellte sich zu uns Frauen ins Wohnzimmer.

   
   
 

Nun gut, dann musste ich da eben durch. Wir hielten zunächst eine Weile lockeren Smalltalk. Doch ich war mit meinen Gedanken natürlich ganz wo anders und rutschte nervös auf dem Sofakissen hin und her. Meine Nervosität fiel offensichtlich auch meinem Bruder und seiner Frau auf. „Klaudia, was ist los?“, fragte Sky schließlich. „Ich…ähm…ja, hat Thassilo euch erzählt, was Freitagabend passiert ist?“ „Du meinst, dass er mit Freunden auf dem Spielplatz Bier getrunken hat? Ja, das hat er uns erzählt“, antwortet Tammy. „Wir haben es gleich gerochen, als er nach Hause kam. Und dann hat er auch schnell alles gebeichtet. Wir haben ihn auch schon bestraft. Er darf den ganzen Herbst über das Laub im Garten zusammenharken.“

 
     
 

„Aber woher weißt du eigentlich davon?“, fragte nun Sky. „Von Lottchen“, gestand ich und erzählte was vorgefallen war. Auch dass meine Tochter von der Polizei nach Hause gebracht wurde, ließ ich nicht aus. „Wir wussten bisher nicht, dass Liz…ähm…Karlotta meine ich, auch beteiligt war“, erklärte mein Bruder. „Thassilo hat sich darüber ausgeschwiegen, wer alles mitgemacht hat. Er wollte seine Freunde wohl nicht verpfeifen und sie in Schwierigkeiten bringen.“

 
 

„Also…Lottchen sagt, dass es Thassilos Idee gewesen sei, das Bier zu besorgen und zu trinken.“ Ich merkte selbst wie meine Stimme bei diesen Worten immer leiser wurde und ich verkrampft auf meine Hände starrte, die fest auf meine Oberschenkel gepresst waren. „Sie sagt, er hätte so etwas schon öfter gemacht, als ihre noch auf Paradiso gewohnt habt. Ich will mich wirklich nicht in eure Erziehung einmischen, aber ihr solltet dringend noch einmal mit Thassilo über die Gefahren des Alkoholkonsums reden. Es scheint, als ob er kein gutes Vorbild für seine Klassenkameraden abgeben würde.“

   
   
   

Eine Weile sagten Tamar und Sky kein Wort. „Das sind harte Anschuldigungen“, durchbrach mein Bruder schließlich die Stille. „Wir werden mit Thassilo darüber reden, sobald er aus der Schule zurück ist. Wenn es stimmt, was du erzählst, dann werden wir die Strafmaßnahmen für unseren Sohn noch einmal überdenken müssen.“ „Ich wollte einfach nur, dass ihr Bescheid wisst“, entgegnete ich. „Ihr werdet schon die richtigen Konsequenzen ziehen.“

 
 

 

 

 
   
   

Meinem Lottchen setzte indes der Hausarrest extrem zu. Bereits nach zwei Tagen langweilte sie sich in ihrem Zimmer zu Tode. Für Spielzeug war sie zu alt, auf Bücher hatte sie keine Lust und die immer gleichen Songs auf ihrem MP3-Player hingen ihr schon bald zum Halse raus. Und das Schlimmste war, dass sie überhaupt nicht wusste, was bei ihren Freunden abging. Ohne Whatsapp und Simbook fühlte sie sich vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Sie würde erst am nächsten Morgen in der Schule erfahren, was ihre Freunde so getrieben haben. Das war eine halbe Ewigkeit!

   
   
 

Natürlich hatte sie versucht, sich von Annabelle und Shamika auf dem alten Knochen anrufen zu lassen, den Francesco ihr als Ersatz für ihr Smartphone überlassen hatte. Schlimm genug, dass sie selbst nur einige Nummern wählen konnte. Aber es ging sogar so weit, dass sie nur von eben diesen Nummern angerufen werden konnte. Annabelle und Shamika kamen einfach nicht durch. So konnte sie mit niemandem kommunizieren.

     
 

Und im Fernsehen kam auch nur Mist. Nur totlangweilige Nachrichtenmagazine, Kochsendungen oder Reiseberichte. Wer wollte denn schon so etwas sehen? Wenn wenigsten eine spannende Soap oder eine Reality-TV-Show laufen würde. Kein Wunder, dass die großen Zeiten des Fernsehens vorbei waren, bei dem Programm!

   
   
 

Nachdem drei Viertel ihrer Strafe rum waren, fiel ihr die Decke regelrecht auf den Kopf. Ihr war sogar so langweilig, dass sie mir freiwillig dabei half, die Pfirsiche aus unserem Garten zu Marmelade zu verarbeiten. Aber wirklich spannend war das auch nicht. „Mami, darf ich bitte nach draußen?“, flehte sie mich schließlich an. „Nur ganz kurz. Bitte. Ich will nur einmal um den Block joggen, dann bin ich auch gleich wieder da.“

 
     
 

„Ach, Lottchen, du weiß doch, dass das nicht geht. Dein Papa würde das nicht erlauben und du hast ja nur noch ein paar Tage Hausarrest.“ „Oh, bitte Mami! Papa muss ja nichts davon erfahren“, bettelte meine Tochter weiter. „Ich verspreche, dass ich längst wieder zuhause bin, wenn er heim kommt. Ich brauche einfach nur ein bisschen Bewegung. Bitte Mami.“ Wie konnte ich da bloß nein sagen? „Na gut, Lottchen. Aber nur ganz kurz. Und kein Wort zu Papa.“

 

 

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kor. 10.12.2023