Kapitel 6
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„Und jetzt scher dich zum Teufel! Das ist mein Spielplatz, damit das klar ist. Und ich will Typen wie dich hier nicht sehen. Los, verschwinde aus meinem Blickfeld!“ Das brauchte Karlotta nicht zweimal zu sagen. Mit Tränen in den Augen dreht der Junge sich um und lief zum Ausgang des Spielplatzes, so schnell ihn seine dünnen Beinchen tragen konnten.

 
 
 

Die anderen hatten von dieser Szene nichts mitbekommen. „Hey, wo warst du denn“, fragte Annabelle, als Karlotta wieder zu den Trampolinen zurückkehrte. „Wir haben dich schon vermisst.“ Es schmeichelte Karlottas Ego, diese Worte zu hören. Aber sie erzählte ihrer Freundin nicht von dem Vorfall. Dass war ihr ganz persönlicher Spaß gewesen. Die anderen brauchten davon nichts zu wissen. „Ich wusste mal für kleine Mädchen“, flunkerte sie. „Aber hier auf dem Trampolin ist es auf Dauer echt öde. Haben wir noch Bier da?“

 
     
 

Ja, es war noch Bier da. Sie hatten die restlichen Flaschen zuvor gut in einem Gebüsch versteckt. Also gingen sie alle wieder zurück, machten es sich auf der Parkbank in der hintersten Ecke des Spielplatzes gemütlich und tranken das restliche Bier.

 
     
 

Erst Bier, den Trampolin, dann noch mal Bier. Das konnte einem schon auf den Magen schlagen. Insbesondere wenn man seit dem Mittag nichts mehr gegessen hatte. Und so war Julian der erste, der sich an diesem Abend übergeben musste. Und wenn er auf die Hilfe und das Mitgefühl seiner Freunde gehofft hatte, so wurde er enttäuscht. Die machten sie nämlich lieber über das „Baby“ lustig, was keinen Alkohol vertrug. Zum Glück zückte niemand sein Handy, um dieses Ereignis für die Ewigkeit festzuhalten.

 
   
 

Doch Julian blieb gar nicht lange Zeit, sich über das Verhalten seiner Freunde zu ärgern. Zunächst hörten sie die Polizeisirene nur in weiter Ferne und dachten sich nichts dabei. Doch dann wurde diese lauter und durch das Gebüsch konnte man das Blaulicht gut erkennen. „Fuck, die Polizei!“, schrie Shamika panisch. „Die wollen uns bestimmt verhaften!“

 
   
 

Augenblicklich brach Panik unter den Kindern aus. „Wir müssen hier weg, sofort“, schrie jemand. „Klettert über den Zaun! Schnell!“, erklang eine andere Stimme. „Lauft alle in unterschiedliche Richtungen“, rief Karlotta ihren Freunden zu. „Dann können sie uns nicht alle erwischen“. Das klang nach einem vernünftigen Plan und die Freunde verteilten sich in Windeseile in alle Himmelsrichtungen. Während die Jungs versuchten über den Zaun zu klettern und Annabelle und Shamika sich einen Weg durch das Gebüsch bannten, versuchte Karlotta es durch den Haupteingang…und lief dem wartenden Polizisten direkt in die Arme.

 
     
 

Der Polizist bekam sie am Arm zu fassen, drehte sie mit dem Rücken zu sich und schlang seine Arme um Karlotta. Er hatte sie fest im Griff. Alles Treten und Strampeln hatte keinen Sinn. Sie konnte ihm nicht entkommen. „Lassen Sie mich los!“, rief sie dennoch entrüstet. „Wissen Sie, wen Sie vor sich haben? Ich bin Lady Karlotta Hartfels, die Tochter von Lord Hartfels. Wenn Sie mich nicht sofort gehen lassen, dann werden Sie aber so richtig Ärger mit meinem Vater bekommen!“ Doch diese Worte beeindruckten denn Polizisten nicht. Er drückte sie auf den Beifahrersitz seines Wagens und verriegelte die Tür. Dann fuhr er los.

 
     
 

Die Fahrt zu unseren Anwesen Hardsten dauerte nur wenige Minuten. Da Karlottas Drohungen dem Polizisten gegenüber ohnehin keine Wirkungen zeigten, schwieg sie lieber und überlegte bereits fieberhaft, wie sie die Situation uns, ihren Eltern, erklären sollte. Konnte sie die Schuld auf jemanden abwälzen? Auf den Polizisten vielleicht? Aber die Zeit war zu kurz für eine gute Geschichte und der Alkohol lähmte zusätzlich ihre Gedanken.

 
   
 

Da der Abend noch nicht zu weit fortgeschritten war, waren Francesco und ich beide noch wach. Wir saßen im Wohnzimmer vor dem Kamin, jeweils vertieft in ein Buch, als wir das Blaulicht bemerkten. Ich lief umgehend zum Fenster und erschrak, als ich durch die Gardine sah, wie unser Lottchen aus dem Wagen stieg. Francesco ging sofort hinaus, nahm unsere Tochter in Empfang und redete mit dem Polizisten. Er bebte sichtlich am ganzen Körper, als er das Haus wieder betrat und die Tür hinter sich schloss. Und dann begann er auch schon zu brüllen: „Was um Himmels Willen hast du dir dabei Gedacht, Karlotta Elisabetta! Randale auf einem Spielplatz, in der Dunkelheit und dann ist auch noch Alkohol im Spiel? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

 
     
 

Randale? Alkohol? Das musste doch alles ein schrecklicher Irrtum sein. Mein braves Mädchen würde so etwas doch niemals tun. „Das muss doch alles ein Missverständnis sein“, wagte ich daher einzuwerfen. Aber Francesco wollte davon nichts wissen. „Unsere vierzehnjährige Tochter riecht wie eine Kellerkneippe. Ich wüsste nicht, was es da für ein Missverständnis geben könnte.“ Er zitterte immer noch vor Wut und ich konnte die Angst in den Augen meines kleinen Mädchens sehen. „Papa ich…“, setzt Karlotta an, aber Francesco schnitt ihr gleich das Wort ab. „Nein, ich will nichts hören. Du gehst rauf in dein Zimmer. Sofort! Und du hast bis auf Weiteres Hausarrest! Haben wir uns verstanden?“

 
   
   

Karlotta nickte eingeschüchtert und mit einer Bewegung seines Kopfes gab Francesco unserer Tochter zu verstehen, dass sie hinauf in ihr Zimmer sollte. Dieser Aufforderung kam Karlotta nur zu gerne nach und lief hastig die Treppe hinauf. Francesco stand neben mir und atmete schwer. Ich wollt etwas sagen, doch mir fielen keine passenden Worte ein, um ihn zu beruhigen. Daher ließ ich es und sagte stattdessen: „Ich werde mal nach Lottchen sehen. Sie sah nicht gut aus.“ Das Grunzen meines Mannes wertete ich als seine Zustimmung.

 
   

Als ich oben ankam, sah ich, dass das Licht im Badezimmer brannte. Die Tür stand offen, also ging ich hinein. Mein kleines Mädchen stand über das Waschbecken gebeugt und atmete schwer. „Mir ist so schlecht, Mami“, sagte sie gequält, sobald sie mich bemerkte. Mein armes Engelchen. „Ich weiß, Lottchen“, tröstet ich sie. „Aber morgen geht es dir wieder besser. Mach die fertig fürs Bett, und ich mache dir in der Zwischenzeit einen Tee.“

 
   
 

Wenig später betrat ich Karlottas Zimmer und stellte die Tasse mit dem dampfenden Tee auf das Regalbrett neben ihrem Bett. „Ich habe dir Fencheltee gemacht. Der beruhigt deinen Magen. Du musst aber vorsichtig sein, er ist noch sehr heiß.“ „Danke, Mami.“ Karlotta saß bereits auf ihrem Bett und zog die Decke hoch. Ich schob den Stuhl ans Bett und setzte mich zu meiner Tochter. „Ist Papa sehr böse?“, fragte sie besorgt. Ich wollte mein Lottchen nicht anlügen. „Ja, er ist böse. Aber morgen wird er sich wieder beruhigt haben. Du solltest dir nicht so viele Sorgen machen. Ich werde gleich noch mit ihm reden.“

 
     
 

Ich blieb noch eine Weile bei meinem Mädchen. Irgendwann fielen Lottchen Augen dann zu und sie glitt hinüber in die Welt der Träume. Behutsam deckte ich sie zu und strich ihr über das dunkle Haar. Wenn ich sie so ansah, konnte ich mir einfach nicht erklären, wie mein Engel bloß in solch eine Situation geraten war.

 
   
   

Auch ich machte mich fertig fürs Bett. Als ich das Badezimmer verließ, hörte ich, dass bei Francesco im Zimmer der Fernseher noch lief. Es war also ein günstiger Moment, um mit ihm zu sprechen. Trotzdem klopfte mein Herz, als ich sein Schlafzimmer betrat. Francesco lag auf dem Bett und blättert in einem Buch, aber ich erkannt, dass er die Wörter kaum wahrnahm. „Was wirst du…werden wir wegen Karlotta unternehmen?“, fragte ich ihn schließlich direkt. „Ich weiß, sie muss bestraft werden. Aber bitte sei nicht zu streng zu ihr. Sie ist doch bisher immer ein so braves Mädchen gewesen.“

   
   
 

Francesco legte das Buch beiseite und ich nahm in einem der Ledersessel Platz. „Wir werden morgen mit ihr reden. Dann hat sie auch die Gelegenheit uns selbst zu berichten, was vorgefallen ist“, erklärte Francesco. Seine Wut hatte sich inzwischen offenbar wieder gelegt. „Aber sie muss bestraft werden. Ihr muss klar sein, dass sie als Tochter des Lords von Rodaklippa eine besondere Verantwortung trägt. Wir können so ein Verhalten nicht hinnehmen. Das muss sich begreifen. Es ist schlimm genug, dass sie das bisher offenbar noch nicht getan hat.“

     
 

Ja, da hatte Francesco leider Recht. Wir waren nun einmal Personen des öffentlichen Interesses. Und so leid es mir für mein Mädchen auch tat, sie musste lernen, dass jeder ihrer Schritte beobachtet wurde. Das war nun einmal das Leben, in das sie hineingeboren wurde. Es hatte seine Privilegien, aber auch seine Schattenseiten.

   

 

 

   
   
   

Am Morgen nach ihrer Biereskapade und Verhaftung durfte Lottchen erst einmal ausschlafen und in Ruhe frühstücken, auch wenn ihr Hunger sich in Grenzen hielt. Doch kurz vor Mittag war ihre Schonfrist abgelaufen. Unser Hausmädchen Janny teilte meiner Tochter mit, dass der Hausherr sie in seinem Arbeitszimmer erwartete. Als Lottchen eingeschüchtert den Raum betrat, saß Francesco an seinem Schreibtisch und schaute unsere Tochter finster an, während in auf dem Sofa Platz genommen hatte und mich ähnlich unwohl fühlte, wie meine Tochter.

 
   

Francesco sagte gar nichts und überließ so Karlotta den ersten Schritt. Diese verharrte zunächst, kam dann aber doch zögerlich auf ihren Vater zu und stellte sich reumütig vor dessen Schreibtisch. „Papa, Mama, es tut mir leid, was ich gestern angestellt habe. Ich hätte auf keinen Fall Bier trinken dürfen und hätte sofort nach Hause kommen sollen, als ich gemerkt habe, was die anderen vorhaben. Bitte verzeiht mir.“

 

 

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kor. 23.11.2023