Kapitel 4
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Magda wusste gar nicht, wie sie reagieren sollte. Solch freundliche Worte hatte sie von ihrer Mutter schon seit Jahren nicht mehr gehört. Und sie taten so unheimlich gut. Die beiden setzten sich auf Sofa und redeten miteinander. Tante Joanna war endlich dazu beriet zu akzeptieren, dass Magda ihren eigenen Weg gewählt hatte. Vom Studium wurde nicht mehr gesprochen. Offenbar war das einfach nicht Magdas Weg. Aber die Arbeit in der Band schien sie zu erfüllen und sie weckte Magdas Ehrgeiz. Und nichts anderes hatte Tante Joanna von ihrer Tochter gefordert.  

 
 

 

 

Teil 2

   
 

Tante Joanne blieb noch für einige Stunden, ehe sie wieder nach SimCity zurück kehrte. Und gleich am nächsten Tag hielt Magda die Zeit für gekommen, ihr Versprechen einzulösen und mir zu helfen, mehr aus meinem Äußeren zu machen. Und für den Anfang schlug sie vor…nun befehlen wäre eher das richtige Wort…dass wir uns um meine überschüssigen Pfunde kümmern sollten. Also begann ich, täglich mit meiner Cousine zu joggen.

   
   
   

Nur joggte Magda schon jahrelang täglich, während meine sportlichen Aktivitäten damit geendet hatten, dass ich mir schon vor Jahren Laufschuhe gekauft hatte, die seitdem aber unbenutzt in meinem Kleiderschrank lagen. Die ersten Meter konnte ich noch gut mithalten, doch kaum hatten wir die Cilia Gade hinter uns gelassen und waren in den Grünstreifen abgebogen, blieb ich mehr und mehr hinter Magda zurück. „Hey, Claude, nicht schlapp machen!“, rief diese mir zu, als sie sich nach mir umdrehte und mich in weiter Ferne entdeckte. „Wir haben doch noch nicht mal die Hälfte der Strecke geschafft!“

 
   
 

Was!? Noch nicht mal die Hälfte? Ich war stehen geblieben und versuchte irgendwie wieder Luft zu bekommen. Der Gedanke keimte in mir auf, dass Magda gar nicht vor hatte mir zu helfen, sondern mich mit diesem Sportprogramm umbringen wollte. Aber natürlich wusste ich, dass dem nicht so war.

 
   
 

Sie meinte es nur gut mit mir und Sport war nun einmal kein Zuckerschlecken. Aber ich gab nicht auf, nicht zuletzt deswegen, weil Magda mir dafür gar keine Möglichkeit ließ. Und mit jeder Woche wurde ich fitter. Als die Bäume schließlich begannen ihrer roten und gelben Blätter abzuwerfen und der Boden morgens ganz weiß vom Nachtfrost war, konnte ich bereits gut Schritt halten mit Magda. Manchmal schaffte ich es sogar, schnelle zu laufen als sie.

 
 

 

 

 
   
 

Mit dem Herbst rückte auch mein Geburtstag näher. Ich fand, dass Geburtstage etwas Tolles waren und gefeiert werden mussten. Also lud ich zu meinem 25. Geburtstag meine Familie und gute Bekannte wie meine Galeristin Melinda oder Jennifer Ramirez ein, die Frau, die mich erst auf die Idee gebracht hatte, Malerin zu werden. Als ich die Kerzen auf der Geburtstagstorte ausblies, hatte ich nur einen Wunsch: Ich wollte endlich vergessen, wie sehr Gernot mich mit seinem Betrug verletzt hatte.

   
   
   

Und ich glaubte, auf einem guten Weg zu sein. Ich dachte nur noch selten an ihn und an diesem besonderen Tag war für solch trübe Gedanken kein Platz. Heute sollte gefeierte werden. Daher gönnte ich mir auch ein großes Stück Torte und ignorierte die vorwurfsvollen Blicke von Magda, die mir zu verstehen geben sollten, dass diese Kalorienbombe aus Fett und Zucker meinen Bemühungen abzunehmen ganz sicher nicht zuträglich war. Damit auch alle Gäste im Haus Platz hatten, hatten wir die Musikinstrumente in Jamies Zimmer gestellt und die Gartenmöbel ins Wohnzimmer geholt. 

 
   
 

Ich hatte viel Spaß und meine Gäste offensichtlich auch. Und es war besonders schön zu sehen, dass wie gut sich mein Mitbewohner Jamie mit meinen Eltern verstand. Papa und er blödelten den ganzen Abend miteinander herum und Mama konnte sich bei dem Anblick das Lachen kaum verkneifen.

 
   
 

Und ich nahm die Gelegenheit wahr, mich mit Sky zu unterhalten. Mein jüngerer Bruder und ich sahen uns einfach viel zu selten, obwohl meine Eltern nur wenige Kilometer entfernt wohnten. Ich versuchte gerade aus ihm herauszukitzeln, ob er denn schon eine Freundin hätte, als Jamie mir auf die Schulter tippte. „Klaudia, vor dem Haus steht eine Frau, die gerne mit dir sprechen möchte. Ich hab sie herein gebeten, doch sie besteht darauf, dass du zu ihr hinauskommst.“ „Hat sie ihren Namen genannt?“, fragte ich verwundert, doch Jamie schüttelte nur mit dem Kopf. Nun denn, dann musste ich wohl nachschauen, war da auf mich wartete.

   
   
 

Kurz kam mir der Gedanke, dass sich Jamie einen Scherz mit mir erlaubte. Doch als ich in die frostige Nacht hinaustrat, stand dort tatsächlich eine Frau. Sie war dunkel gekleidet und eindeutig nicht mehr warm genug für dieses kalte Wetter. Ihre Haare waren kurz geschnitten und sie hatte offenbar eine Vorliebe für ein sehr starkes Makeup. Das konnte ich selbst in dem fahlen Licht der Gartenlaternen erkennen. Irgendwie erinnerte sie mich damit an…

 
     
 

„Kinga!“ Konnte das sein, konnte das wirklich meine ältere Schwester sein? Ich lief auf sie zu und schloss sie fest in meine Arme. Und diese Frau erwiderte meine Umarmung ohne zu zögern. Ja, jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Das war meine ältere Schwester Kinga. „Alles Gute zum Geburtstag, kleine Schwester“, begrüßte sie mich und strich mir sanft über das Haar. „Ich habe dich vermisst.“

 
 

Wir umarmten uns eine halbe Ewigkeit. Es war nun 13 Jahre her, dass ich meine Schwester das letzte Mal gesehen hatte. Und jetzt stand sie plötzlich vor mir. Damals, vor 13 Jahren, steckte sie in ernsten Schwierigkeiten. Kinga hatte erfahren, dass unser Vater, Dominik, gar nicht ihr leiblicher Vater war. Und das hat sie so wütend gemacht, dass sie fortan alle in ihrer Umgebung terrorisiert, insbesondere unsere Mutter. Aber auch an mir hatte sie oft genug ihren Frust ausgelassen. Als wäre das nicht schlimm genug, schloss sie auch noch Bekanntschaft mit den falschen Leuten und begann Drogen zu nehmen. Meine Eltern sahen keinen anderen Ausweg mehr, als Kinga in die Obhut meiner Tante Joanna zu geben. Meine Tante half ihr, doch war jeder Kontakt zwischen meiner Schwester und dem Rest unserer Familie abgebrochen. Kinga wollte nichts mehr mit uns zu tun haben…bis zu diesem Augenblick.

   
   
   

Langsam lösten wir uns aus der Umarmung und ich sah meine Schwester freudestrahlend an. Tausend Fragen lagen mir auf der Zunge. Wo war Kinga die ganze Zeit gewesen? Was hat sie getan? Doch das konnte warten. Erst einmal mussten unsere Eltern wissen, dass Kinga wieder da war. „Mama und Papa sind im Haus. Du musst unbedingt mit hinein kommen. Sie werden sich so freuen, dich zu sehen!“, sprudelte es aus mir heraus. 

 
   
 

Doch Kinga blockte ab. „Halt, Klaudia, nein. Ich bin nicht hier, um Mutter oder Dominik zu sehen. Ich bin nur wegen dir hier.“ Die Art wie sie Mama „Mutter“ nannte und Papa kalt als „Dominik“ bezeichnete, ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht würde umstimmen lassen. Selbst nach 13 Jahren brodelte noch die Wut in ihr. „Klaudia, was auch immer zwischen mir, Mutter und Dominik vorgefallen ist, war eine Sache zwischen uns dreien. Es tut mir daher leid, wie ich dich damals behandelt habe. Du bist meine kleine Schwester. Ich hab lange gebraucht um das zu begreifen, aber ich liebe dich.“

 
       
 

„Und deshalb möchte ich dich gerne besser kennenlernen. Wir haben so viele Jahre verpasst. Du warst noch ein halbes Kind, als ich euch verließ. Ich habe ein Ferienwohnung in der Stadt gemietet, in der Marine Parade 14. Es wäre schön, wenn du mich dort besuchen könntest. Dann können wir in Ruhe reden, schließlich will ich dich nicht von deinen Gästen fernhalten. Aber ich bitte dich, sag niemanden, dass ich hier bin, ganz besonders nicht Mutter und Dominik. Versprichst du es mir?“ Ich tat es. Ich war zwar davon überzeugt, dass es ein Fehler war, dass sich Kinga weiterhin vor unseren Eltern versteckte, aber wenn es ihr Wunsch war, dann würde ich ihn akzeptieren. Vorerst.

 
 
   

Kinga verabschiedete sich. Ich beobachtete, wie sie die Straße überquerte und dann die Treppe zur U-Bahn hinunterstieg. Dann ging auch ich wieder ins Haus. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich doch ohne Jacke gefroren hatte. Zitternd stand ich ihm Wohnzimmer. Mama bemerkte sofort, dass etwas mit mir nicht stimmte. Wie gerne hätte ich ihr alles gesagt. Doch ich hatte Kinga ein Versprechen gegeben und so beteuerte ich, dass alles in Ordnung sei. Meine Mutter war zwar nicht überzeugt, aber sie hakte nicht weiter nach und wir feierten vergnügt weiter.

 
 

 

 

   
   

Ich verbrachte eine unruhige Nacht. Ständig musste ich an meine Schwester denken und so war ich froh, als endlich die Sonne aufging und ich mich zu der Adresse begeben konnte, die sie mir genannt hat. Aber als ich dann vor dem Haus stand, konnte ich mich doch nicht so recht überwinden, anzuklopfen. Mir waren in der Nacht all die schlimmen Dinge wieder eingefallen, die meine Schwester mir und unserer Mama angetan hatte. Wie viele Nächte hatte ich zu Tode erschrocken und weinend eingeschlossen in meinem Zimmer verbracht, während sie im Nebenzimmer mit ihren Freunden Drogen nahm und sich anschließend sexuell mit ihnen vergnügte. Wollte ich sie wirklich wieder in mein Leben lassen?

   
   
   

Doch diese Entscheidung nach Kinga mir ab, als sie selbst auf die Veranda hinaustrat. Und auf ihrem Arm hielt sie einen kleinen Jungen. „Wir haben dich schon eine Weile durch das Fenster beobachtet, Klaudia“, sagte sie zur Begrüßung. „Ich bin froh, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest. Aber es gibt so viele Dinge, die ich dir erzählen möchte.“

 
   

„Und das Wichtigste siehst du hier auf meinem Arm.“ Langsam stieg ich die Stufen der Veranda hoch, fasziniert von dem kleinen Jungen, den meine Schwester hielt. „Das ist mein Sohn David“, stellte Kinga ihn mir vor, als ich vor ihr stand und küsste ihren Sohn auf den Kopf. „Und das ist deine Tante Klaudia“, flüsterte sie dem kleinen Jungen zu, der mich verschüchtert aus großen, dunklen Augen musterte.

 

 

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kor. 12.07.2014