Kapitel 6
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Also half ich meiner Cousine bei der Suche. „Du meinst bestimmt den Domaine de Grangeneuve. Der ist weiter unten.“ Ich schob meine Cousine zu Seite und holte die Flasche aus dem Regal. Die Flasche und einen Korkenzieher drückte ich Magda in die Hand und holte in der Zwischenzeit die Rotweingläser aus dem Sideboard. Magda hatte die Flasche in Windeseile geöffnet und so schenkte ich uns gleich ein Glas ein.

 
 
 

„Oh, der riecht schon so lecker…und so, als ob ich morgen davon ordentlich Kopfschmerzen haben werde“, scherzte Magda und sog genüsslich das Bouquet des Weines ein, ehe sie den ersten Schluck nahm. „Auf uns, Claude!“, sagte sie dann. „Darauf, dass wir beide unser Glück gefunden haben!“

 
     
 

Ich stieß mit meiner Cousine an, aber nicht zum ersten Mal beschlich mich das Gefühl, eine Heuchlerin zu sein. Ich war nicht so glücklich, wie Magda glaubte. Am liebsten hätte ich mich ihr in diesem Moment anvertraut. Aber was hätte das geändert? Hätte Francesco mich deswegen plötzlich geliebt? Nein! Also war es auch nicht notwendig, mich meiner Cousine zu offenbaren. Stattdessen drängte ich meine trüben Gedanken einfach beiseite und genoss den süßen Geschmack des Weines und die seichte Unterhaltung mit meiner Cousine. So zog der Nachmittag dahin und kurz nach fünf kehrte Francesco aus dem Rathaus heim.

 
     
 

„Francesco! Wir haben uns ja schon ewig nicht gesehen“, kreischte Magda bereits sichtlich beschwipst bei seinem Anblick. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und fiel meinem Mann fast um den Hals. Doch der hielt sie freundlich aber bestimmt auf Abstand. „Guten Abend, Magda“, begrüße er sie dann höfflich, bevor er als Zeichen der Begrüßung seine Hand auf meine Schulter legte. Sein Blick fiel auf die gefüllten Weingläser und die inzwischen leere Weinflasche. „Wie ich sehe, habt ihr euch einen schönen Nachmittag gemacht. Ich will euch dann auch nicht weiter stören. Ich werde mich in mein Arbeitszimmer zurückziehen und die Protokolle der letzten Ratssitzung kontrolllesen.“

 
   
 

Doch davon wollte Magda nichts wissen. „Nein, Francesco, du bleibst hier“, sagte sie bestimmt und formte mit ihren vollen Lippen einen Schmollmund. „Du bist doch fast so was wie mein Schwager. Mein einziger Schwager! Und ich bekomme dich so gut wie nie zu Gesicht. Außerdem ist unsere Flasche leer und unsere Claude hier ist nicht gerade eine Weinexpertin. Ganz im Gegensatz zu dir. Du musst uns einen guten Wein empfehlen. Einen der zu Käse passt. Claude, hast du Käse da? Wir brauchen jetzt dringend Käse!“ Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich zusammen mit Francesco einfach nur mal eine Glas Wein getrunken hätte. Es wäre wirklich schön, wenn er bei uns bliebe. Daher blickte ich ihn bittend an und spätestens als Magda mit ihren langen Wimpern klimperte, konnte er nicht mehr nein sagen und setzte sich zu uns.

 
   
 

Käse hatte ich dann keinen mehr im Haus, zumindest keinen, den man seinen Gästen in Form einer Käseplatte hätte anbieten können. Aber der Käse war noch gut genug, um ihn zu einer Soße zu verarbeiten. Ich bereitete also in der Küche schnell ein paar Spaghetti ai formaggi zu, während Francesco einen passenden Wein aussuchte und im Esszimmer schon einmal das erste Glas mit Magda leerte.

 
     
 

Dafür, dass ich es in wenigen Minuten gezaubert hatte, schmeckte das Essen wunderbar. Sogar Magda lobte mich, was sonst nicht sehr oft passierte. Und auch wenn Francesco erst nicht so gewirkt hatte, als ob er viel Lust dazu hätte, den Abend mit uns zu verbringen, so wurde er doch nach dem ersten Glas Wein sehr viel geselliger. Und nach dem zweiten Glas, gelang es Magda sogar die eine oder andere Neuigkeit aus dem Rathaus aus ihm heraus zu kitzeln. „Also, stimmt es wirklich, dass die Empfangsdame und der Hausmeister in flagranti auf der Damentoilette erwischt wurden? Von dir persönlich?!“ Damit griff meine Cousine den Tratsch auf, der seit einigen Tagen in der Stadt kursierte.

 
     
 

Francesco strich sich schelmisch grinsend über das Kinn. „Das erzählt man sich also auf der Straße, ja? Aber ich muss dich enttäuschen, Magda, ganz so spektakulär war es dann doch nicht. Eine Mitarbeiterin hat lediglich beobachtet, wie zuerst eine weibliche Mitarbeiterin und kurz darauf auch ein männlicher Mitarbeiter die Damentoilette verließen. Und beide sahen…leicht zerzaust aus. Ich habe mit beiden gesprochen und sie gebeten, ihre Aktivitäten in Zukunft bitte Zuhause auszuführen. Da der Vorfall sich aber nach Dienstschluss ereignete, hatte dies für beide keine weiteren Konsequenzen.“

 
   
 

Ich war erstaunt, wie leicht es Magda gelungen war, Francesco diese Information zu entlocken. Denn auch mir waren die wahren Ereignisse dieser Geschichte vollkommen neu. Als ich Francesco aus Neugier zuvor darauf angesprochen hatte, hatte er mir nichts erzählt, mit dem Hinweis, dass er über Belange seiner Angestellten mit niemandem außerhalb des Rathauses sprechen dürfe. Nicht zum ersten Mal wünschte ich mir, mehr so wie meine Cousine zu sein. Dann fiel mein Blick auf die Uhr und ich erkannte, dass es bereits weit nach 23 Uhr war. Erschrocken erhob ich mich von meinem Stuhl. "Entschuldige Magda, aber wir müssen den Abend jetzt hier beenden. Ich habe morgen früh einen Termin mit einem Fotografen. Die wollen Fotos von mir für die Broschüre der Krankenhausstiftung machen, für die ich Geld gesammelt habe. Und wenn ich jetzt nicht ins Bett gehe, dann wird es wirklich schwer für den Fotografen, meine Augenringe auf den Bildern zu retuschieren."

 
     
 

„Hm, na gut“, entgegnete Magda zerknirscht. Sie hatte Spaß und eigentlich war der Abend noch viel zu jung, um jetzt schon nach Hause zu gehen. „Lass mich nur noch das Glas leeren.“ Sie griff nach ihrem halbvollen Weinglas um es auf ex auszutrinken, als Francesco sie aufhielt. „Halt, Magda, der Wein ist doch viel zu schade, um ihn einfach so runter zu kippen. Ich muss morgen erst am späten Vormittag im Büro sein. Wenn du willst leiste ich dir noch ein wenig Gesellschaft und wir machen gemeinsam die angebrochene Flasche leer?“ Das war ja eine herrliche Idee. Mein schlechtes Gewissen hatte sich nämlich schon geregt, weil ich Magda so früh vor die Tür setzte. Aber wenn Francesco sich um sie kümmerte, dann konnte ich beruhigt ins Bett gehen.

 
   
   

Magda musste nicht lange überzeugt werden. Anstatt das Glas zu leeren griff sie nach der Weinflasche und füllte das Glas fast bis zum Rand wieder auf. „Claude, ich wünsche dir eine erholsame Nacht“, sagte sie mir zum Abschied. „Aber Schlaf wird da auch nicht viel retten können“, murmelte sie als ich außer Hörweite war. „Und jetzt, Francesco?“, fragte sie dann. „Was fangen wir mit dem Rest des Abends an?“ „Ich könnte dir von den Weingütern erzählen, von denen die Weine stammen, die du heute getrunken hast. Oder ich erzähle dir von den Artefakten aus Ägypten, die ich sammle. Habe ich dir schon die antike Schale drüben auf dem Kamin gezeigt?“ „Nein, das hast du nicht“, entgegnete Magda koket, woraufhin Francesco sich erhob und mit dem Glas in der Hand zum Kamin schritt. Interessiert folgte ihm meine Cousine und lauschte gebannt der Geschichte, die er zu dieser Schale zu berichten wusste.

 
   

Derweil machte ich mich bettfertig. Zuletzt putzte ich meine Zähne und trug eine reichhaltige Nachtcreme auf, um morgen frühe eine besonders frische Haut zu haben. Als ich im Bett lag und das Licht löschte, hörte ich noch gelegentlich Magdas helles Lachen und Francescos tiefen Bariton durch die verschlossene Tür dringen. Ich war so froh, dass meine Cousine und mein Mann sich so gut verstanden. Trotz allem waren die beiden nach Lottchen und meinen Eltern die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Es wäre schlimm gewesen, wenn die beiden nicht miteinander auskommen könnten.

 

 

 

   
   
   

Als ich am nächsten Morgen ins Esszimmer kam, fand ich mehrere geleerte Weinflaschen auf dem Tisch vor. Ich hatte keine Ahnung, wann Magda nach Hause gegangen war, es musste aber noch ein längerer Abend geworden sein. Ich hoffte für beide, dass sich der Kater in Grenzen hielt. Ich wusste ja nicht, was Magda für den heutigen Tag geplant hatte, aber Francesco musste in wenigen Stunden im Rathaus sein und einer Grundschulklasse seinen Arbeitsplatz zeigen.

 
   
 

Ich war froh, dass ich mich gestern rechtzeitig abgesetzt hatte. So könnte ich ohne Übelkeit und Kopfschmerzen in Ruhe frühstücken und anschließend meinen Termin bei dem Fotografen wahrnehmen. Das Shooting für die Krankenhaus-Broschüre dauerte dann auch kürzer als erwartet und so entschloss ich mich, meinen Eltern einen Überraschungsbesuch abzustatten. Die Tür war wie immer nicht abgeschlossen und ich traf meine Mutter in der Küche an, wie sie gerade einen Pfannkuchenteig rührte.

 
       
 

Durch ein Klopfen auf den Tisch machte ich mich bemerkbar. „Ach, hallo Spätzchen“, begrüßte Mama mich, ohne dabei ihre Arbeit zu unterbrechen. „Ich bereite gerade das zweite Frühstück für Papa vor. Willst du vielleicht mitessen?“ Ich lehnte dankend ab, mit der Erklärung, dass ich noch satt sei. Aber als sie den Teig in die heiße Pfanne gab und der Duft frischer Pfannkuchen in meine Nase stieg, überlegte ich es mir noch einmal anders. Plötzlich erklang ein ohrenbetäubender Lärm aus dem Wohnzimmer, sodass ich mir meine Ohren zuhalten musste. „Was ist denn jetzt los?“, fragte ich sichtlich irritiert. Doch meine Mutter blieb ganz gelassen.

 
 
   

„Das ist bloß dein Vater. Ich kümmere mich darum.“ Sie drehte das Gas am Herd ab und ging ins Wohnzimmer, wohin ich ihr folgte. Mein Vater saß auf der Couch vor dem Fernseher, der auf volle Lautstärke aufgedreht war. Als ob das noch nicht laut genug wäre, zuckte ich zusammen, als auch noch Mama begann zu brüllen. „Nick! Nick! Du hast schon wieder vergessen dein Hörgerät einzuschalten! Nick, hörst du mich?! Schalte sofort dein Hörgerät ein, sonst werden Klaudia und ich auch noch taub von dem Lärm!“

 
     

Papa bemerkte sie erst, als Mama fast vor ihm stand. „Brodlowska, ist das Essen etwa schon fertig?“, fragte er verwirrt. „Nick, dein Hörgerät!“, schrie meine Mutter erneut und tippt sich an ihr Ohr. Da erst begriff mein Vater, fasst sich hinter die Ohrmuschel und schaltete seien Hörhilfe ein…mit dem Ergebnis, dass er selbst zusammenzuckte, bei dem Lärm, der nun auf ihn eintrommelte. „Jesus, verdammt! Wo ist denn bloß die Fernbedienung?!“ Hektisch suchte er das Sofa ab und fand die Fernbedienung schließlich in der Ritze zwischen Sitzfläche und Lehne. Und einen Augenblick später herrschte endlich angenehme Ruhe im Haus meiner Eltern.

   
   
   

„Schau mal, wer zu Besuch ist. Unser Pummelchen.“ Mit diesen Worten lenkte Mama Papas Aufmerksamkeit auf mich und ich winkte ihm zur Begrüßung fröhlich zu. Mit einer Handbewegung forderte mein Vater mich auf, mich zu ihm auf das Sofa zu setzen. Ich kam dem nur zu gerne nach. Während meine Mutter wieder in der Küche verschwand, unterhielt ich mich mit meinem Vater. „Dieses verdammte Hörgerät“, beschwerte er sich. „Seit zwei Jahren habe ich es schon und komme noch immer nicht damit zurecht. Ich sag‘s dir, Spätzchen, das Alter ist keine Freude.“

 

 

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kor. 08.10.2023