Kapitel 5
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Sky bat darum, sich in sein Zimmer zurückziehen zu dürfen. Er musste jetzt erst einmal etwas alleine sein. Und natürlich ließ Mama ihn ziehen. Derweil kochte sie uns einen heißen Kräutertee zur Entspannung der Nerven und wir setzten uns an den Esstisch im Wohnzimmer. „Sky hat Angst“, erklärte ich Mama, nachdem ich den ersten Schluck genommen hatte. „Er fürchtet, dass er sich seine ganze Zukunft verbaut hat.“ Doch Mama winkte beschwichtigend ab. „Ja, er wird es jetzt schwere haben, keine Frage. Aber ein Kind ist kein Weltuntergang, insbesondere, da dein Vater und ich vorerst für alles Finanzielle aufkommen können. Und dein Bruder ist bereits 16. Er ist zwar noch jung, aber auch kein Kind mehr. Ich bin mir sicher, dass er mit der Verantwortung wird umgehen können, wenn wir ihn unterstützen.“

 
 
 

„Ich war ja auch erst 19, als ich mit Kinga schwanger wurde“, fuhr Mama fort. „Das sind nur drei Jahre mehr. Und ich stand ohne meine Eltern da.“ Doch dann wurde sie etwas nachdenklicher. „Aber ich hatte deinen Vater an meiner Seite. Und mit seinen 27 Jahren hatte er deutlich mehr Lebenserfahrung als ich. Er war mir eine große Hilfe, auch wenn ich das nicht immer zu schätzen wusste. Ich hoffe sehr, dass sich Sky und Tamara auch gegenseitig unterstützen werden. Aber zur Not hat er ja uns, seine Familie.“

 
     
 

Und ganz plötzlich begann sie zu lächeln. „Zwei Enkelkinder! Und beide ganz in der Nähe! Ich weiß, für Sky ist das sicher nicht optimal, aber der Gedanke bald zwei süße Enkelkinder in den Armen halten zu dürfen ist einfach zu schön.“ Ich konnte Mama in dieser Hinsicht gut verstehen. Denn auch ich freute mich ja, dass meine kleine Tochter einen Spielkameraden im gleichen Alter haben würde. 

 
   

 

 

 
   
 

Kurz darauf kehrte Papa wieder heim. Und wie meine Mutter es vorausgesagt hatte, hatte er sich inzwischen wieder beruhigt. Gemeinsam kamen sie überein, dass es das Beste wäre, sich noch heute mit den Eltern von Tamara zu treffen, um das weiter Vorgehen zu besprechen. Da ich unbedingt erfahren wollte, wie sich diese Zusammenkunft gestalten würde, wartete ich im Haus meiner Eltern auf ihre Rückkehr und las in einem Buch für werdende Mütter, welches Mama für mich gekauft hatte.

 
   
 

Das Buch war so „spannend“, dass ich beim Lesen einnickte. Erst das laut Zuschlagen der Haustür riss mich aus meinen Träumen. Und sogleich betrat Papa fuchsteufelswild das Wohnzimmer. „Was bilden diese Leute sich eigentlich ein? Ich habe noch nie so spießige und bornierte Menschen erlebt. Es ist nicht zu fassen!“ Meine Mutter war direkt hinter ihm und sie sah keineswegs glücklicher aus. „Und das wollen gottesfürchtige Menschen sein?“, schnaubt e sie. „Mir scheint, die haben die Wort Nächstenliebe und Vergebung noch nie gehört. Christen! Dass ich nicht lache!“

 
   
 

„Was ist denn passiert?“, fragte ich daher sogleich und sprang aus dem Sessel auf. Offenbar war der Besuch bei Tamaras Eltern nicht wie erhofft verlaufen. „Was passiert ist? Diese Idioten haben erst deinen Bruder und dann uns wüst beschimpft. Die schwafelten die ganze Zeit etwas von ‚Sünde‘ und ‚Entehrung der Familie‘ “, berichtete Papa. „Aber damit noch nicht genug. Nachdem Tamaras Vater uns auf die Straße gesetzt hatte, hörten wir aus dem Haus nur noch großes Geschrei. Und dann flogen auch schon Kleidungsstücke und Tamaras andere persönliche Gegenstände aus dem Fenster. Und schließlich mussten wir mit ansehen, wie ihr Vater Tamara selbst unsanft durch die Tür beförderte. ‚Dein sündiger Leib wird diese Türschwelle nicht noch einmal überschreiten‘, das waren exakt seine Worte an seine Tochter.“

   
   
   

Erst jetzt nahm ich die beiden Gestalten wahr, die langsam aus dem Flur ins Wohnzimmer schritten. Tamaras Gesicht war vollkommen ausdruckslos, aber ich konnte genau erkennen, dass sie heftig geweint hatte. Mein Bruder redete tröstend auf sie ein und strich ihr liebevoll über den Arm, aber sie schien beides nicht zu bemerken. Sie stand eindeutig unter Schock. „Wir haben Tamara natürlich sofort mit uns genommen“, erklärte Mama. „In diesem Zustand konnten wir sie ja schlecht allein zurück lassen. Wir werden noch mal versuchen, mit ihren Eltern zu sprechen, aber vorerst wir sie bei uns bleiben.“

 
 

 

 

 
   
 

Ich blieb noch zum Abendessen. Mama schmierte in der Küche ein paar Stullen für alle und Tamara und ich trugen die Teller schon einmal ins Esszimmer. Ich hatte meinen Teller gerade abgestellt, als ich ein sehr unangenehmes Ziehen in meinem Bauch bemerkte. Erst dachte ich, meine Kleine hätte mich wie so oft getreten, bevorzugt gegen eines meiner inneren Organe. Aber dieses Ziehen war anders und entwickelte sich rasend schnell zu einem mehr als unangenehmen Schmerz. Ich stöhnte leise auf und griff mir an den Bauch. „Lady Hartfels, ist mit Ihnen alles in Ordnung?“, fragte Tamara erschrocken. Doch so schnell der Schmerz gekommen war, war er auch wieder vorbei. Ich konnte also Entwarnung geben. Lady Hartfels, wie seltsam sich diese Worte doch aus dem Mund der Freundin meines kleinen Bruders angehört hatten. Ich würde mich noch daran gewöhnen müssen, in Zukunft von den meisten Menschen so genannt zu werden.

 
     
 

Der plötzliche Schmerz war verschwunden, allerdings nur für die nächsten Minuten. Schon beim Essen spürte ich immer wieder dieses seltsame Ziehen. Doch als ich dann Mama half den Tisch abzuräumen und das dreckige Geschirr in die Küche trug, durchfuhr es mich erneut mit ganzer Heftigkeit. „Spatz, geht es dir nicht gut?“, fragte nun auch Mama. Doch sie musste mich nur einmal anblicken um zu erkennen, was los war. „Spätzchen, das sind die Wehen“, erklärte sie schmunzelnd. Doch ich schüttelte heftig mit dem Kopf. „Nein, das kann nicht sein. Der errechnete Termin ist doch erst in vier Tagen! Das können also noch gar nicht die Wehen sein!“ Doch noch bevor Mama darauf antworten konnte, spürte ich plötzlich, wie mir warmes Wasser das Bein hinunterlief. Entsetzt riss ich die Augen auf. Oh oh…war das…war das etwa die Fruchtblase?

 
   
   

Doch bevor ich auch nur weiter darüber nachdenken konnte durchfuhr mich auch schon die nächste Schmerzwelle, dir mir fast die Sinne raubte. Ein animalischer Schrei entfuhr meiner Kehle, der dazu führte, dass Papa, Sky und Tamara panisch in die Küche angelaufen kamen.

 
   

„Was ist passiert?“, fragt Papa alarmiert. Mama war die einzige, die gelassen blieb. „Bei unserem Pummelchen haben die Wehen eingesetzt. Du wirst also gleich Großvater, Nick.“ Doch ihre Worte führten nicht dazu, dass mein Vater sich beruhigte, ganz im Gegenteil. „Hier?! Jetzt?! Wir sind auf eine Hausgeburt doch  gar nicht vorbereitet!“ Papas Panik übertrug sich auch auf Sky, der panisch zwischen Mama und mir hin und her blickte und die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Doch Mama blieb weiterhin gelassen. „Von Hausgeburt kann doch gar keine Rede sein“, erwiderte sie schmunzelnd. „Das Baby kommt vermutlich erst in einigen Stunden. Wir haben noch viel Zeit. Also los, Dominik, hol‘ das Auto aus der Garage und dann fahren wir alle zusammen zum Krankenhaus.“

 
   
 

Jetzt, wo er eine klare Aufgabe hatte, beruhigte sich mein Vater augenblicklich und befolgte unverzüglich die Anweisungen meiner Mutter. Während Sky versuchte, Francesco zu erreichen, fuhren meine Eltern mich ins Krankenhaus. Sky und Tamara würden später mit der U-Bahn nachkommen. Am Empfang des Krankenhauses musste nur einmal der Name „Lady Hartfels“ fallen und sofort wurde ich von mehreren Krankenschwestern umringt, die sich um mich kümmerten und mich für die Entbindung vorbereiteten. Dr. March wurde unverzüglich gerufen und er bestätigte, dass es sich um keinen Fehlalarm handelte und mein Baby tatsächlich zur Welt kam. Da Francesco noch nicht eingetroffen war, bat ich meine Mutter mich in den Kreißsaal zu begleiten. Die Schmerzen waren zunächst noch erträglich, doch das sollte sich bald ändern.

 
     
 

In diesem Moment war ich so dankbar, dass Mama bei mir war und ich diese Tortur nicht allein durchstehen musste. Selbst wenn Francesco hier gewesen wäre, ich hätte mir immer Mama an meiner Seite gewünscht, denn sie wusste genau, wie sie mich unterstützen und mit Kraft geben konnte. Dr. March fragte, ob ich etwas gegen die Schmerzen haben wollte, doch bevor ich mich dazu durchringen konnte, musste ich erneut pressen und mit einem Rutsch war auch schon alles vorbei. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, wie Mama mir beruhigend über die Haare strich und wie ich meine kleine Tochter zum ersten Mal schreien hörte. Dann wurde um mich herum alles schwarz.

 
   
   

Als ich wieder zu mir kam, war ich nicht länger im Kreißsaal, sondern bereits auf dem Zimmer. Erschrocken richtete ich mich auf, merkte aber sofort, dass sich die Welt erneut zu drehen begann. „Langsam, Spätzchen“, hörte ich die sanfte Stimme meiner Mutter. „Dein Kreislauf muss erst einmal wieder in Gang komme.“ Sie erhob sich aus einem Stuhl am Fenster. Und in ihren Armen hielt sie ein winziges Bündel. Neugierig reckte ich meinen Hals um einen Blick auf meine Tochter zu erhaschen. Mama kam zu mir ans Bett und beugte sich mit der Kleinen zu mir herab, damit ich sie genau in Augenschein nehmen konnte. Sie war so winzig! Das süßte Baby, das ich je gesehen hatte.

   
   
 

Während ich vorsichtig mit meinen Fingern über den schrumpeligen Kopf meiner Tochter fuhr, ging die Tür zum Krankenzimmer auf und Papa und Sky kamen herein. Beide traten sie zu mir ans Bett. Papa lächelte selig und blickt abwechselnd mich und dann wieder seine Enkeltochter in den Armen meiner Mutter an. Sky beglückwünschte mich überschwänglich und klatschte begeistert in die Hände. Ich hielt das für ein wunderbares Zeichen. Wenn er sich so für mich freuen konnte, würde er sich bestimmt auch schon bald auf sein eigenes Kind freuen können.

     
 

Und ich freute mich wahnsinnig über mein Kind. Kreislauf hin oder her, ich konnte nicht mehr länger ruhig im Bett bleiben. Ich musste meine Tochter in den Arm nehmen. Meine Mutter versuchte gar nicht erst, mich davon abzuhalten und übergab mir behutsam das kleine Würmchen. Wellen des Glücks durchströmten mich, als ich ihren wunderbaren Duft einsaugte und ihre winzigen Fingerchen meinen Hals berührten.

   
   
 

Kurz darauf betrat Francesco das Krankenzimmer. „Es tut mir leid, dass ich nicht früher hier sein konnte“, entschuldigte er sich. Seine Stimme ließ erkennen, dass er es ernst meinte. „Die Ratssitzung wollte einfach kein Ende nehmen. Und das ist also unser kleines Mädchen?“, fragte er, als er bei mir war. Beiläufig drückte er mir einen Kuss auf die Stirn und ich merkte, wie meine Gefühle sofort wieder begannen Purzelbäume zu schlagen. Klaudia, er liebt dich nicht! Ich musste mich selbst ermahnen, nicht in mein altes Verhaltensmuster zu verfallen. Aber es fiel mir nicht leicht. Vorsichtig legte ich ihm unsere Tochter in den Arm. Ich spürte, wie er jeden Muskel anspannte, aus Angst sie fallen zu lassen oder sie zu zerdrücken. Aber als sie friedlich in seinen Armen lag, entspannte er sich wieder. Ich beugte mich über seine Schulter und gemeinsam schauten wir uns unsere Prinzessin an. „Sie ist uns ganz gut gelungen“, bemerkte Francesco. Ein Lächeln zeichnete sich deutlich auf seinen Lippen ab. Was auch immer er für mich empfand, es war deutlich, dass seine Gefühle für unsere Tochter sehr viel stärker waren. Aber diese Erkenntnis machte mich nicht eifersüchtig. Viel mehr gab sie mir Gewissheit, dass unsere Tochter trotz der schwierigen Beziehung zwischen Francesco und mir nicht würde leiden müssen.

 

 

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kor. 12.04.2015