Kapitel 5
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Lange schien es, als wolle der Schnee gar nicht mehr weichen. Es blieb kalt und frostig bis weit in den April hinein. Doch dann kam der Frühling mit einem großen Schlag. Der Schnee schmolz und überall um mich herum begannen die Blätter und Blumen zu sprießen. Anfang Mai hatten wir fast schon sommerliche Temperaturen. In der Cilia Gade hatte ich mir immer vorgenommen, einen Gemüsegarten anzulegen. Doch über eine kümmerliche Tomatenpflanze war mein Vorhaben nie hinausgekommen. Das sollte sich in meinem neuen Zuhause ändern. Sobald es warm genug war, ging ich also in den Garten hinaus und begann damit einige Kräuter in die Beete vor dem Küchenfenster zu pflanzen.

 
 
 

Mein inzwischen kugelrunder Bauch machte mir die Arbeit nicht gerade einfacher. Mühsam richtete ich mich auf. Dabei nahm ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt am Gartenzaun wahr. Tatsächlich, dort stand mein kleiner Bruder Sky. Wobei, klein traf es nicht mehr wirklich. Inzwischen war er mindestens genau so groß wie ich, wenn nicht sogar großer. Ich wollte ihm zur Begrüßung zuwinken, doch als ihm bewusst wurde, dass ich ihn entdeckt hatte, zuckte er erschrocken zusammen.

 
     
 

Und noch seltsamer wurde es, als er einfach davonlief, als ich mich ihn nährte. „Hey, Sky, warte doch!“, rief ich ihm hinterher, während ich zum Gartenzaun watschelte. Doch Sky schien gar keine Notiz von mir zu nehmen, sondern sprintete in Richtung Innenstadt davon.

 
     
 

Verwundert blieb ich am Zaun stehen. Was war bloß in meinen kleinen Bruder gefahren? Es benahm sich doch sonst nicht so seltsam. Und dann wurde mir bewusst, dass er um diese Uhrzeit eigentlich in der Schule hätte sein müssen. Was machte er also an meinem Haus? Schwänzen wollte so gar nicht zu Sky passen.

 
   
 

Für einen kurzen Moment dachte ich daher, dass er einfach nur schnell zur Schule rennen wollte, schließlich lag sie in derselben Richtung. Doch das erklärte nicht, warum er überhaupt hier und dann ohne ein Wort losgeeilt war. Noch weniger erklärte es, warum er nach gut 200 Metern stoppt und seinen Kopf langsam in meine Richtung drehte. In dieser Position verweilte er eine gefühlte Ewigkeit, bevor er schlussendlich wieder langsam zu mir zurückkehrte.

 
   
 

Als er näher kam, sah ich bestürzt, dass seine Augen ganz verquollen waren. Einige Tränen liefen immer noch seine Wange hinunter. Es musste etwas passiert sein. Etwas sehr schlimmes. Anders war sein Verhalten nicht zu erklären. Und mit einem Mal bekam ich furchtbare Angst.

 
     
 

„Sky, was ist passiert?“, fragte ich panisch. „Geht es um Mama und Papa? Ist ihnen etwas zugestoßen. Sky, rede mit mir!“ Er blickte mich zunächst nur verständnislos an, doch dann schüttelte er zu meiner Erleichterung entschieden mit dem Kopf. „Nein…nein, Mama und Papa geht es gut.“ Erleichtert atmete ich auf. „Noch“, fuhr Sky fort. „Aber wenn sie erfahren was passiert ist…“ Sky schluckte heftig.

 
     
 

Mein Kopfkino hatte also nur eine Minute lang Pause gehabt. Sofort malte ich mir die schlimmsten Horrorszenarien aus. Waren Mama oder Papa krank? Nein, das ergab keinen Sinn. Warum hätte Sky es dann vor ihnen wissen sollen. Es musste also um ihn gehen. War er etwa von der Schule geflogen? Aber das passierte doch nicht so schnell. Ich konnte mir keinen Reim auf die ganze Geschichte machen. Aber lange musste ich nicht mehr im Trüben fischen. „Klaudi, du kennst doch meine Freundin, Tamara“, setzte Sky mit gesenktem Kopf an. Ich nickte, auch wenn ich sei bislang nur sehr flüchtig kennengelernt hatte. Sky und sie waren erst kurz vor Weihnachten fest zusammen gekommen. „Tamara…sie…sie ist schwanger.“

 
   
 

„Von dir!?“, platzte es mir heraus, bevor ich nur darüber nachdenken konnte. „Natürlich von mir, von wem den sonst“, antwortete Sky sichtlich gekränkt. In diesem Augenblick hätte ich nicht sagen können, welcher Gedanke für ihn schlimmer zu ertragen war: Dass seine Freundin überhaupt schwanger war, oder dass sie nicht von ihm schwanger sein könnte.

 
     
 

„Und ihr seid euch wirklich sicher?“, hakte ich nach. „Kann es nicht nur sein, dass ihre Tage aus einem andern Grund ausbleiben? Bei einem so jungen Mädchen ist das nichts Ungewöhnliches.“ Doch Sky schüttelte traurig den Kopf. „Sie war gestern beim Arzt. Er hat es bestätigt. Sie hatte wohl schon länger eine Vermutung, hat mir aber nichts davon gesagt…erst heute Morgen. Sie ist schon im vierten Monat.“ Vierter Monat! Du liebe Güte. Damit war es bereits zu spät um noch eingreifen zu können. Und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich bald nicht nur Mutter sonder auch zum zweiten Mal Tante werden würde. Und so unpassend es war, irgendwie fand ich den Gedanken schön, dass meine kleine Tochter einen Cousin oder eine Cousine zum Spielen haben würde.

 
   
   

Doch der Gedanke, der mir Freude auslöste, löste bei meinem kleinen Bruder blankes Entsetzen aus. Und mit einem Mal begann er wie ein kleines Kind zu weinen. „Was soll ich denn jetzt machen, Klaudi?“, schluchzte er bitterlich. „Ich bin doch noch viel zu jung, um Vater zu werden. Wie soll ich denn für Tamara und unser Kind sorgen? Ich hab doch nicht einmal das Abitur. Wer wird mich denn einstellen? Soll ich etwa für den Rest meines Lebens hinter der Kasse an der Tankstelle stehen? Ich wollte doch an die Uni! Ich wollte doch Anwalt werden. Und jetzt kann ich das alles vergessen. Mein ganzes Leben ist kaputt und nur, weil ich einmal nicht aufgepasst habe. Das kann doch alles nicht wahr sein.“

 
   

Alle seine Fragen waren berechtigt. Und auf keine wusste ich eine Antwort. Es wäre gelogen, wenn ich gesagt hätte, alles würde gut werden. Es war zwar nicht hoffnungslos, aber Skys Leben würde sich grundlegend ändern. Ich konnte ihn jetzt in dieser Situation nur in den Arm nehmen. Und plötzlich war er nicht mehr der fast erwachsene Mann, sondern ein kleines Kind, das sich an meiner Schulter ausweinte. „Kommst du bitte mit mir mit, wenn ich es Mama und Papa erzähle“, flehte er mich schluchzend an. Und natürlich könnte ich ihm diesen Wunsch nicht abschlagen.

 

 

 

   
   
   

Da ich wusste, dass Papa ohnehin noch in der Kaserne sein musste und Mama vormittags immer genug Arbeit mit der Farm hatte, bot ich Sky an, sich erst einmal in meinem Haus ein wenig zu beruhigen. Und tatsächlich versiegten seine Tränen nach einer Weile und gemeinsam machten mir uns nach dem Mittag zum Haus unserer Eltern auf. Wir trafen sie im Wohnzimmer an, wo sie beide über ihren Kreuzworträtselbüchern brüteten. Erfreut und neugierig erhoben sie sich vom Sofa, als ich verkündete, dass es eine Neuigkeit gäbe. „Also…ja…wisst ihr“, stammelte ich drauf los, nach den richtigen Worten ringend. Doch die richtigen Worte gab es in dieser Situation  nicht, als platzte ich einfach mit den Tatsachen heraus. „Ihr werdet bald nicht nur Großeltern von einem sondern gleich von zwei Enkelkindern.“

 
   
 

Ich hatte ja mit Vielem gerechnet, aber nicht mit den verzückten Blicken auf den Gesichtern meiner Eltern. „Spätzchen, das sind ja wundervolle Nachrichten! Seit wann weißt du denn schon, dass du Zwillinge erwartest?“, fragte Mama sogleich. Zwilling? Ich? Oh nein, offenbar kam es hier gerade zu einem riesigen Missverständnis, welches ich sofort aufklären musste. „Nein, nein!“, warf ich entschieden ein. „Ich erwarte nur ein Kind.“ Doch zu meiner Verwunderung strahlten meine Eltern weiterhin. „Dann bekommt Kinga als ein zweites Kind?“, entgegnete nun Papa. „Das sind ja herrliche Neuigkeiten!“

 
       
 

Nein, das wollte ich doch auch nicht sagen! Doch bevor ich meine Eltern noch mehr in die Irre leiten konnte, ergriff Sky selbst das Wort. „Nein, auch nicht Kinga. Mama, Papa“, Sky atmete tief durch, „ich werde Vater. Tami ist schwanger.“

 
 
   

Endlich trat die Reaktion bei meinen Eltern ein, dich ich von Anfang an erwartet hatte. Papa erstarrte zur Salzsäule und alle Farbe wich aus Mamas Gesicht. Kraftlos stützte sie sich an der Schulter meines Vaters ab. Es folgten dieselben Fragen, die auch ich schon zuvor gestellt, und nach wenigen Minuten waren wir alle auf dem gleichen Stand. Doch im Gegensatz zu heute Morgen bewahrte Sky diesmal die Fassung. Er war zwar weiß wie eine Wand, aber seine Augen blieben trocken. 

 
     

Dafür rang nun unser Vater mit seiner Fassung. Und auch wenn er sich Mühe gab, so konnte er seine Wut doch nicht bremsen. „Junge, haben wir dir denn nichts über Verhütung beigebracht! Wie konntest du nur so fahrlässig sein?!“ Erschrocken wich Sky zurück und auch ich war erstaunt über Papa ungewohnt heftigen Ausbruch. Ja, er schimpft öfter mal über die ein oder andere Person. Aber Sky und ich hatten ihn bislang nur höchst selten zu einem Wutausbruch getrieben.

   
   
   

Doch Mama stellte sich sogleich schützend vor Sky. „Nick, nicht, dass führt doch zu nichts“, redete sie beruhigend auf Papa ein und strich im besänftigend über die Wangen. „Ein Spaziergang würde dir jetzt sicher gut tun, meinst du nicht auch?“ Mein Vater blickte Mama eindringlich in die Augen, doch schließlich nickte er. „Du hast Recht Brodlowska, ein wenig frische Luft wird mir gut tun.“ Wortlos rauschte er an Sky und mir vorbei, nahm seine Jacke von der Garderobe und verließ das Haus.

 
   

Sky stand kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen. Und auch meine Augen begannen verräterisch zu glänzen. Doch Mama kam unverzüglich auf Sky zu um ihn zu trösten. „Schatz, mach dir um Papa keine Sorgen. Er ist erschrocken, aber glaube mir, er wird sich schnell wieder beruhigen. Und was noch viel wichtiger ist, wir werden dich unterstützen, wo immer wir können. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Papa und ich sind immer für dich da.“ Ich konnte regelrecht spüren, wie eine unglaubliche Last von Skys Schultern fiel…zumindest für den Moment. Seine Zukunft würde nicht einfach aussehen, aber er konnte sich darauf verlassen, dass unsere Eltern zu ihm hielten.

 

 

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kor. 22.03.2015