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Mit Vollgas raste ich die Landstraße entlang nach Sierra
Simlone Stadt. Die Regentropfen auf der Scheibe nahmen mir fast
vollständig die Sicht, denn der leichte Sommerregen war
in einen kräftigen Schauer übergegangen. Doch ich
kannte nur ein Ziel. Ich musste zu meinen Kindern, zu Klaudia
und Sky und sie in Sicherheit bringen. Mit quietschenden Reifen
bog ich auf den Bürgersteig vor der Schule ein und sprang
aus dem Wagen. Und im selben Moment hörte ich einen ohrenbetäubenden
Knall aus Richtung der Bohrtürme. Ich musste mich beeilen.
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Ich hastete den Schulgang entlang und riss ohne anzuklopfen
die Tür zu Skys Klassenzimmer auf. In der Klasse herrschte
ein heilloses Durcheinander. Einige der Kinder liefen wild umher,
andere saßen wie angewurzelt auf ihren Plätzen und
starten hilfesuchend ihre Lehrerin an. Ein Junge versteckte
sich sogar unter der Schulbank.
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Skys Lehrerin stand regungslos mit dem Rücken zur Tafel.
Ihr Mund stand leicht offen und ihre Augen sprachen deutlich
von der Verwirrung, der Angst und der Hilflosigkeit, die in
ihr vorgehen mussten. Es war ihr erstes Jahr als Lehrerin. Der
normale Unterricht brachte sie schon oft genug an den Rand der
Verzweiflung, aber diese Situation überforderte sie in
Gänze.
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"Mami!", schrie Sky laut, sprang von seinem Platz
auf und lief auf mich zu, sobald er mich erkannte. "Mami,
was ist hier los? Was ist das bloß für ein Lärm?
Ich hab solche Angst", quickte er. Seine Augen spiegelten
das blanke Entsetzen wider. "Dir wird nichts passieren,
Liebling", versicherte ich ihm. "Mami wird nicht zulassen,
dass dir etwas passiert."
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Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, gab es einen gewaltigen
Knall. Entsetzt riss ich meinen Kopf zum Fenster. Die Explosion
war viel näher, als die Vorherigen. Es hörte sich
fast so an, als ob diesmal nicht nur einer der Bohrtürme
getroffen wurde. Nein, die Explosion muss ganz in der Nähe
stattgefunden haben, mitten in der Stadt. Die Kinder schrien
alle noch lauter als zuvor. Waren sie vorher nur verängstigt,
so brach jetzt offene Panik aus. Ich musste Sky hier rausbringen
und Klaudia und all die anderen Kinder. Aber wohin?
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Ich lief zu Skys Lehrerin hinüber, die immer noch apathisch
an der Tafel stand. "Frau Jolowitz! Frau Jolowitz!".
Ich packte die junge Frau an den Schultern und schüttelte
sie kurz aber heftig. Benommen starte sie mich an, als ob sie
gerade aus einem Traum erwacht wäre. "Frau Jolowitz,
wir müssen die Kinder in Sicherheit bringen. Die Stadt
wird gerade bombardiert! Wir sind alle in Gefahr. Hat die Schule
einen Keller? Sie müssen uns hinführen!"
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Doch die Frau wirkte immer noch benommen. Ich war mir nicht
einmal sicher, ob sie verstanden hatte, was ich gerade zu ihr
sagte. Dann begann sie langsam mit dem Kopf zu schütteln.
"Nein, wir dürfen das Klassenzimmer nicht verlassen.
So steht es in der Schulordnung. Die Kinder müssen bis
zum Gong in diesem Raum bleiben. Ja, so steht es in der Schulordnung".
Ich konnte meinen Ohren kaum glauben. "Frau Jolowitz, das
hier ist keine normale Situation. So etwas ist in der Schulordnung
nicht vorgesehen. Wir müssen sofort alle hier raus."
Doch die junge Lehrerin wollte nicht hören. Besser gesagt,
sie konnte es nicht. Der Schock über die Ereignisse saß
bei ihr zu tief. "Die Schulordnung verbietet es",
sagte sie immer wieder leise auf und wiegte sich mechanisch
vor und zurück.
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Eine erneute Explosion in unmittelbarer Nachbarschaft machte
mir deutlich, dass ich schnell handeln musste. "Alle weg
vom Fenster und versteckt euch unter den Tischen", schrie
ich. Offenbar hatten die Kinder nur auf eine klare Ansage gewartet,
denn plötzlich kehrte halbwegs Ordnung ein und alle Kinder
folgten ausnahmslos meiner Aufforderung. Ich versicherte mich,
dass alle Kinder unter den Tischen kauerten und kroch anschließend
selbst zu ihnen. "Frau Jolowitz", forderte ich die
junge Lehrerin auf, "kommen sie auch zu uns hinunter."
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Doch die junge Frau schien meine Worte nicht einmal gehört
zu haben. Anstatt sich unter den Schulbänken zu verstecken,
schritt sie zum Fenster und starte ausdruckslos auf die Straße.
Sie beugte sich gerade vor, als eine Rakete direkt vor der Schule
einschlug. Die Druckwelle lies die Scheiben bersten. Glasscherben
und Holzsplitter flogen durch die Luft und gruben sich in den
Körper der Frau, die quer durch den Raum geschleudert wurde.
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Die Kinder schrien vor Angst und Entsetzen laut auf. Und auch
ich konnte das Gesehene kaum ertragen. "Schaut weg Kinder",
wies ich sie an, doch sie konnten den Blick von ihrer schwer
verletzten Lehrerin nicht abwenden.
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Ich krabbelte unter dem Tisch hervor und auf Frau Jolowitz zu.
Es war ein furchtbarer Anblick. Aus zahlreichen durch die Glasscherben
verursachten Wunden floss Blut, doch die junge Frau rührte
sich nicht. Zitternd streckte ich meine Hand aus und suchte
nach der Hauptschlagader an ihrem Hals. Doch ich fühlte
keinen Puls. Skys Lehrerin war tot.
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Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und eine Frau
um die Fünfzig blickte völlig außer Atem in
das Klassenzimmer. Sie musste hierher gerannt sein. Entsetzt
entdeckte sie die Leiche vor meinen Füßen, während
ich mich wieder aufrichtete. Es war die Direktorin der Schule.
"Christina!", keuchte sie. "Wir brauchen sofort
einen Notarzt". Doch ich blickte sie traurig an und schüttelte
kaum merklich mit dem Kopf. Und die Direktorin verstand, dass
jede Hilfe für ihre Kollegin zu spät kam.
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Doch anders als Skys junge, unerfahrene Klassenlehrerin geriet
die Direktorin nicht in Panik. "Draußen herrscht
das totale Chaos. Die Kinder sind hier nicht länger sicher.
Unter der Schule befinden sich einige Kellerräume. Ich
habe die anderen Schüler schon runter geschickt. Das hier
ist die letzte Klasse". Diese Nachricht ließ mich
wieder hoffen. Vielleicht konnten die Kinder doch noch in Sicherheit
gebracht werden.
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"Los, alle schnell raus hier", wies ich die unter
den Tischen hockenden und wimmernden Kinder an. Sofort krochen
sie unter den Schulbänken hervor und liefen in die Richtung,
in die die Direktorin sie wies. Ich versicherte mich ein letztes
Mal, dass alle den Raum verlassen hatten und lief dann gemeinsam
mit der Direktorin zur Kellertür.
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Es waren zwar nur wenige Meter bis zum Eingang zum Keller, doch
dieser Weg erschien mir unendlich weit. Ich rechnete in jedem
Moment damit, dass eine Rakete das Schulgebäude traf. Aber
wir kamen alle sicher an. Ich stieg als Letzte die Leiter in
den Kellerraum hinab. Unten waren bereits die Schüller
und Lehrer versammelt. In kleinen Grüppchen verteilt hockten
sie in den Ecken zwischen alten Büchern und staubigen Kisten.
Es herrschte eine angespannte Stille, die nur von einem gelegentlichen
Flüstern unterbrochen wurde.
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"Mama!" Klaudia sprang sofort auf und lief auf mich
zu, als sie mich die Leiter hinunter steigen sah. Erleichtert
fiel sie mir um den Hals. Sie hatte Angst, wie wir alle und
war den Tränen nah. Und mir erging es nicht besser. Bis
jetzt war ich stark, weil ich es sein musste. Doch hier, in
der Sicherheit des Kellers überkamen auch mich die Hoffnungslosigkeit
und das blanke Entsetzen. Ich konnte nicht mehr tun als sie
zu halten und ihr auf diese Weise Trost zu spenden. Aber auch
ich schöpfte aus dieser Berührung neuen Mut.
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"Was ist denn da draußen los? Was geht da vor sich?",
drang meine Tochter mit Fragen auf mich ein. Doch darauf konnte
ich ihr keine Antwort geben. Ich berichtete, was ich von den
Weiden aus beobachten konnte, wie die Hubschrauber plötzlich
aus dem Süden auftauchten, direkt auf die Stadt zuflogen
und mit der Bombardierung der Bohrtürme begannen. Ich merkte,
dass nicht nur Klaudia zuhörte, sondern dass auch die Blicke
der übrigen älteren Schüler und der Lehrer auf
mich gerichtet waren.
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Meine Erzählung wurde Sekunden später von einem Raketeneinschlag
unweit der Schule unterbrochen. Die Wände des Kellers vibrierten
und Putz rieselte von der Decke herab. Erschrocken blickten
wir alle in Richtung des Kellereingangs, aber offensichtlich
hatte die Rakete nicht das Schulgebäude selbst getroffen.
Zumindest schien über uns alles noch zu stehen. Es wurde
mucksmäuschenstill in dem Raum. Selbst das leise Flüstern
verstummt jetzt.
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Ich zog mich mit Klaudia und Sky in eine Ecke des Kellers zurück.
Mein Sohn zitterte am ganzen Körper, fest umschlossen von
meinen Armen. Aber ansonsten blieb er ganz ruhig. Alle Kinder
blieben erstaunlich ruhig. Von Klaudias Schulkameraden hätte
man das erwarten können, aber viel der Kinder waren gerade
einmal sechs oder sieben Jahre alt. Und nur meine Kinder hatten
das Glück, dass sie in dieser Situation nicht alleine waren,
sondern ihre Mutter bei sich hatten.
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