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Teil 2: 1 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 R

 


Sie stellte die Kanne auf einen niedrigen Tisch in einer Ecke des Büros ab und goss zwei Tassen ein. Dann verließ sie wortlos wieder den Raum. Joanna ging auf die dampfenden Tassen zu, nahm sie in die Hand und reichte mir anschließend eine davon. Dann forderte sie mich auf, mich auf die Couch am Fenster zu setzen. "Du wirst noch jede Menge Gelegenheiten haben, dich bei Kinga für alles zu Entschuldigen", setzte sie unser Gespräch fort. "Aber es wäre ein Fehler, wenn du sie jetzt sehen würdest, Xana. Kinga ist noch nicht bereit dafür."


Ich blickte Joanna verständnislos an. Meine Schwester fuhr sich unsicher mit den Fingern durch die Haare und biss sich auf die Unterlippe. Sie überlegte genau, was sie mir nun sagen sollte. "Du hast mich vor zwei Jahren gebeten, mich um Kinga zu kümmern, damit sie wieder ein geregeltes Leben führen kann. Und ich habe dir versprochen, dass ich das für dich tun werde...allerdings auf meine Art. Kinga hat riesige Fortschritte gemacht. Du würdest sie kaum wiedererkennen. Von dem unreifen Mädchen, das du in meine Obhut gegeben hast, ist nicht mehr viel übrig." Es war das erste Mal, dass Joanna und ich so offen über Kinga sprachen. Und mein Herz machte einen Freudensprung als ich hörte, wie gut Kinga sich in den letzten Jahren entwickelt hatte.


Doch Joanna trübte meine Freude augenblicklich wieder. "Aber Kingas Hass auf dich ist immer noch unverändert stark, Xana. Es tut leid, aber ich fürchte, deine Tochter würde dich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sehen wollen. All die Briefe, die du ihr in den letzten Jahren geschrieben hast, hat sie ungeöffnet zerrissen. Sie ist nicht bereit, dir zu verzeihen. Möglicherweise wird sie irgendwann dazu in der Lage sein, aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. Wenn ich dir aber jetzt erlauben würde, Kinga zu sehen, dann befürchte ich, dass all die Narben, die bei ihr langsam angefangen haben zu verheilen, wieder aufbrechen könnten. Die zwei Jahre Arbeit, die ich in Kinga investiert habe, um sie zu einer vernunftbewussten Frau zu erziehen, wären dann umsonst gewesen. Und das möchtest du doch auch nicht, nicht wahr? Ich werde dir daher nicht erlauben, sie zu sehen. Noch nicht."


Das war zu viel für mich. Die Tränen schossen mir wieder einmal in die Augen und ich stand hastig vom Sofa auf. Ich hielt die Kaffeetasse fest umklammert und blickte durch das große Fenster hinaus auf die Dächer von SimCity. Doch ich nahm die Stadt gar nicht wahr. Meine Gedanken waren nur bei Kinga. Wie konnte ich es so weit kommen lassen, dass meine eigene Tochter mich so sehr hasste? Wieso konnte ich es nicht verhindern? "Kinga ist weit entfernt von jedem Kampfgeschehen", setzte Joanna ruhig fort. "Sie ahnt noch nicht einmal, dass die SimNation sich in einem Krieg befindet. Dein Besuch würde ihr Leben, das so langsam wieder geordnete Bahnen annimmt, nur durcheinanderwirbeln. Du musst mir einfach vertrauen, dass ich mich gut um deine Tochter kümmere."


"Ich vertraue dir doch, Jojo", versichert ich meiner Schwester. "Sonst hätte ich die Zukunft meiner Tochter nie in deine Hände übergeben. Ich weiß, dass du nur das Beste für sie willst." Joanna kam auf mich zu und nahm mich fest in den Arm. Es tat so gut, von ihr getröstet zu werden. Sie gab mir den Halt, den ich mir in der jetzigen Situation so sehr von Dominik gewünscht hätte. Aber er war hunderte von Kilometern weit entfernt und ich konnte nur dafür beten, dass er immer noch am Leben war.


Die nächste Welle der Verzweiflung überrollte mich. Joanna spürte das sofort. "Du denkst an Dominik, nicht wahr?", fragte sie und ich nickte, während eine einzelne Träne meine Wange herunterlief. "Du weißt nicht, ob es ihm auch gut geht?", fragte ich meine Schwester verzweifelt. Joanna schüttelte mit dem Kopf. "Nein, ich weiß nicht mehr über Dominiks Verbleiben, als du". Meine Schultern sackten zusammen und der kleine Hoffnungsschimmer, der soeben in mir entflammt war, erlosch augenblicklich. Wenn nicht einmal Joanna etwas über Dominiks Verbleib wusste, dann war jede Hoffnung vergebens. Doch Joanna hört nicht auf zu sprechen. "Ich habe keine weitern Informationen über Dominik, aber heute Morgen ist jemand aufgetaucht, der mehr weiß."


Meine Schwester fasst mich an den Schultern und drehte mich um 180 °, so dass ich über ihren Schreibtisch hinweg in die andere Ecke des Büros schauen konnte. Ich drehte meinen Kopf nach hinten und blickte Joanna verständnislos an. Doch mit einem Kopfnicken gab sie mir zu verstehen, dass ich in die von ihr angedeutete Richtung schauen sollte. Und da erst bemerkte ich die Gestalt, die nun langsam aus dem Schatten hervortrat. Ich erkannte den Mann sofort, auch wenn er anders aussah, als ich ihn in Erinnerung hatte. Dennoch dauert es einige Sekunden, bis mein Gehirn das Gesehen verarbeiten konnte. Meine Knie wurden weich und ich sackte zu Boden.


"Dad." Meine Stimme war zuerst nicht mehr als ein Flüstern, doch dann begann ich regelrecht zu schreien. "Dad, Dad, Dad! Dad, du bist es!" Ich rappelte mich so schnell es ging auf und lief auf meinen Vater zu, der in der Ecke des Büros meiner Schwester stand. Ich sprang ihm einfach in die Arme, so als ob ich nicht bereits 44, sondern gerade einmal 16 wäre. Und Dad fing mich mit Leichtigkeit auf. Trotz seiner bereits deutlich über 60 Jahre spürte ich die Kraft in seinem Körper. "Meine, Oxana", sagte er und drückte mich fest an sich. "So wild wie eh und je."


Dad setzte mich wieder ab und ich konnte meinen Blick gar nicht von ihm wenden. Er war älter geworden. Die Haare waren nicht mehr leuchten rot, sondern inzwischen grau und unzählige Falten waren in seinem Gesicht erschienen. Aber er war es ganz sicher. Seine Augen waren immer noch so kornblumenblau und strahlend, wie ich sie aus meiner Kindheit kannte. Und auch er betrachtet mich ganz aufmerksam. Ich versuchte zu ergründen, was ich für diesen Mann empfand, denn ich nun seit 20 Jahren nicht mehr gesehen hatte und der mir so viel Leid und Schmerzen zugefügt hat. Doch da war keine Spur von Hass mehr. Ich war einfach nur wahnsinnig froh, meinen Vater, den ich nie um Verzeihung bitten konnte und den ich schon seit Jahren für Tod hielt, wiederzusehen.


"Wo warst du all die Zeit?", war das erste, was ich ihn fragte. Ich wunderte mich nicht darüber, dass Dad noch lebte. Ich hatte immer geahnt, dass er es war, der mich damals vor Joannas Ex-Lover Giovanni gerettet hatte. Aber ich wollte zu gerne wissen, warum er all die Jahre vorgegeben hatte, tot zu sein. Dad antwortet mir nicht sofort. Stattdessen ging er hinüber zu dem Regal, in dem Joanna ihren Alkohol aufbewahrte, und zog eine Flasche Whiskey heraus. "Diese Frage wird dir deine Schwester sicherlich bei Gelegenheit gerne beantworte", erwiderte er schließlich, nachdem er ein Glas mit der bräunlichen Flüssigkeit gefüllt hatte und genüsslich einen Schluck davon nahm. "Heute aber bin ich hier, um dir etwas über den Verbleib von Dominik zu erzählen."


"Dominik? Du weiß wo mein Mann ist? Geht es ihm gut? Du musst mir alles darüber erzählen, Dad", stürmte ich auf meinen Vater ein. Joanna kam auf mich zu und legte ihre Hand auf meinen Rücken um mich etwas zu beruhigen, aber ihrem Blick konnte ich entnehmen, dass sie genau so neugierig darauf war zu erfahren, was mit Dominik geschehen war, wie ich. Dad setzte das Whiskyglas an seinen Lippen an und leerte es in einem Zug. "Sehr guter Tropfen, Kleines", lobte er Joanna und stellte das Glas ab. "Nun denn", wandte er sich wieder uns zu, "dann setzt euch mal hin, die Geschichte ist etwas länger."


"Du darfst nicht glauben, dass deine Schwester nicht ein wachsames Auge auf deinen Mann gehabt hätte, Oxana. Und zwar war das mein Auge. Ich habe in den letzten zwei Jahren immer mal wieder in Simnistrien nach dem Rechten gesehen und überprüft, ob die Lage dort ruhig blieb. In den letzten Wochen begann es sichtlich zu brodeln, also habe ich ein Lager in der Nähe der Bohrtürme aufgeschlagen, für deren Sicherheit Dominik zuständig war, um ihn besser im Auge behalten zu können."


"Doch wochenlang geschah nichts. Die simnistrische Regierung machte es den simnationalen Ölfirmen zwar nicht gerade leicht, ihrer Arbeit nachzugehen, aber bis auf verstärkte Kontrollen der Transporter und des Personals geschah nichts weiter. Dominik ging seiner Arbeit nach, die aber im Wesentlichen darin bestand, Diebe vom Gelände der Ölfirmen fern zu halten, die sich immer wieder im Dschungel rumtrieben und hofften, etwas von dem Öl mitgehen lassen zu können."


"Die Nacht vor drei Wochen war eigentlich wie jede andere zuvor auf. Etwa gegen Mitternacht wurde der Schichtwechsel vollzogen. Dominik hatte die letzten vier Stunden vor den Toren des Geländes Wache gehalten und wurde jetzt von einem seiner Kollegen aus dem Sicherheitsteam abgelöst. Ich bin mir sicher, dass er sich auf ein paar Stunden Schlaf nach einem anstrengenden Tag freute."


"Doch der wurde ihm an diesem Tag verwehrt. Kaum dass dein Mann die Tore hinter sich geschlossen hatte, sprang eine Gruppe bewaffneter simnistrischer Soldaten aus dem Unterholz und stürmte auf das Gelände der Ölgesellschaft zu. Geblendet von dem hellen Licht der Laternen, die zu beiden Seiten des Tores hingen, erkannte der Sicherheitsmann am Tor die Gefahr erst, als es für ihn bereits zu spät war."


"Und er wird auch keine Gelegenheit mehr bekommen, diesem Fehler wieder gut zu machen. Ohne ein Wort der Warnung eröffneten die Simnistrier das Feuer und der überraschte Mann fiel tot zu Boden, noch ehe er begriffen hatte, was da genau vor sich ging."


"Dominik hingegen zögerte nicht einen Augenblick. Er brauchte nicht erst die Leiche seines jungen Kollegen zu sehen, um zu begreifen, dass alle Mitarbeiter der Ölgesellschaft in großer Gefahr waren. Er hängte sich das Gewehr über die Schulter und stieg hastig die Leiter zu einem der Wachtürme hinauf. Er sah die simnistrischen Soldaten mit ihren Pistolen in den Händen und handelte augenblicklich. Zwei Schüsse erklangen und zwei der simnistrischen Angreifer gingen zu Boden. Die anderen Soldaten erkannten die Gefahr und suchten Deckung hinter dicken Baumstämmen, während Dominik selbst hinter der niedrigen Betonmauer Schutz suchte."


"Dominiks Ganze Aufmerksamkeit galt den Soldaten vor dem Tor, die sich verschanzten und immer wieder Schüsse auf ihn abgaben, denen er zum Teil nur knapp entgehen konnte. Aber immerhin hielt er sie in Schacht. Dominik war eindeutig in der besseren Position und hätte diesen Angriffstrupp sogar zum Rückzug zwingen können. Doch einem der Simnistrier war es gelungen, unbemerkt über das Tor zu klettern und nun schlich er sich heimtückisch an deinen Mann heran, der die Gefahr in seinem Rücken nicht bemerkte."


"Du warst nah dran, Witwe zu werden, Tochter. Doch zu Dominiks Glück war ich nicht nur in Simnistrien um ihn zu beobachten, sondern auch um ihn zu schützen. Ich hatte genau beobachtet, wie der Soldat über das Tor geklettert war. Auch ich hatte meine Wege, hinter die Mauern des Ölbohrturmgeländes zu kommen. Der Soldat hat wohl nicht mit weiteren Sicherheitskräften gerechnet, denn dann wäre er nicht ohne Deckung einfach die Leiter hinaufgeklettert. So stellte er ein Leichtes Ziel für mich dar und ich konnte Dominik das Leben retten."


"Doch in Sicherheit war er deswegen nicht. Der kurze Moment der Ablenkung genügte und die restlichen Soldaten, die im Dschungel Deckung gesucht hatten, stürmten auf das Tor zu. Dominik hatte keine Chance mehr sie aufzuhalten. Und mit Schrecken stellte er fest, dass die Simnistrier keine Gnade zeigten. Sie schossen wahllos auf jeden, der sich auf dem Gelände befand. Die Bohrturmarbeiter, die durch die Schüsse aus ihrem Schlaf gerissen wurden und aus den Schlafsälen lugten, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte, wurden kaltblütig niedergeschossen. Dominik erkannte, dass er hier niemandem mehr helfen konnte, zumal weitere Soldaten aus dem Dschungel stürmten. Er tat das einzig Richtige und sprang die vier Meter vom Wachturm. Und dann rannte er in den Dschungel, so schnell und so weit wie er konnte."

 

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