|
|
"So nah", flüsterte ich erschrocken, mehr zu
mir selbst, als zu Joanna. Und dann geschah etwas, worauf ich
nicht gefasst war. Joannas Augen begannen feucht zu glänzen
und ein feines Rinnsal begann an ihrer Wange herabzufließen.
"Das war viel zu nah", keuchte sie mit ersticktem
Tonfall, sichtlich darum bemüht, ihre Fassung zu wahren.
Doch dann gab sie diesen Versuch auf, griff mit beiden Händen
in ihre Haare und ballte sie zu Fäusten. Das Schluchzen
ließ sich nicht mehr unterdrücken. "Ihr wart
alle in Lebensgefahr. Meine Kinder, deine Kinder, du. Ich hätte
das voraussehen müssen. Ich hätte euch längst
aus SimCity herausschaffen müssen. Ich bin schließlich
für euch verantwortlich."
|
|
Joanna begann am ganzen Körper zu zittern. Und das einzige,
was ich in dieser Situation tun konnte war, meine Schwester
in den Arm zu nehmen. Erst jetzt wurde mir klar, was für
eine Verantwortung auf ihren Schultern lastete. Sie hatte mich
und die Kinder aus der Sierra Simlone gerettet. Und auch jetzt
vertraute ich immer noch darauf, dass sie uns schützen
würde. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wie viel
Kraft es sie kosten musste, in dieser extremen Situation ihre
Organisation weiter am Laufen zu halten, ständig von der
Angst begleitet, dass ihrer Familie etwas zustoßen könnte.
So verletzlich wie heute, hatte ich Joanna nicht mehr gesehen,
seit wir Kinder waren.
|
|
Nach einigen Minuten hörten das Zittern und das Schluchzen
auf und Joanna löste sich aus meiner Umarmung. Sie schritt
zum Balkongeländer, streckte die Schultern durch und holte
mehrmals tief Luft. Ich erkannte, dass sie kein leichtes Leben
führte. In ihrem Job musste sie immer stark sein. Schwäche
zu zeigen könnte leicht bedeuten, dass eigene Leben zu
riskieren. Und obwohl ich wusste, dass Tobias sie immer unterstützte,
musste sie selbst vor ihm eine Fassade aufrechterhalten. Er
war ihr Mann, aber er war auch einer ihrer Gefolgsleute. Das
führte unweigerlich zu Distanz. Doch mir gegenüber,
ihrer Zwillingsschwester, konnte sie für einen Moment ganz
sie selbst sein. Eine verängstigte Frau und Mutter, genauso
wie ich es war und hundertausende anderer Frauen in der SimNation.
|
|
Doch dieser Moment war schnell vorüber. Joanna drehte sich
wieder um und ging auf mich zu. "Morgen früh packst
du ein paar Sachen zusammen, und dann wirst du mit Tobias und
den Kindern an einen sicheren Ort fahren." Der Tonfall
ihrer Stimme gab deutlich zu Verstehen, dass jede Diskussion
nutzlos war. Joanna war wieder ganz die Chefin eines Verbrechersyndikats
und sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Ich nickte stumm.
"Und was wirst du tun?", fragt ich, nachdem ich realisierte,
dass sie nicht vorhatte, uns zu begleiten. "Ich werde endlich
dafür sorgen, dass den Simnistriern ordentlich in den Hintern
getreten wird."
|
|
|
Gleich am nächsten Morgen verkündete Joanna allem
beim Frühstück, dass wir SimCity verlassen müssten,
weil es in der Stadt inzwischen zu gefährlich geworden
wäre. Doch nicht bei allen kam dieser Vorschlag gut an.
"Ich will hier nicht weg", maulte Magda, als Joanna
ihr Zimmer betrat, um zu sehen, wie weit sie mit dem Packen
vorangekommen war. Sie schleuderte schlecht gelaunt einige T-Shirts
in den Koffer, der auf ihrem Bett lag, und schlug den Deckel
zu.
|
|
"Alle meine Freunde sind hier! Papa meinte, es gibt dort
nicht einmal Handyempfang. Ich werde zur absoluten Außenseiterin
in der Schule!" Sie fuchtelte theatralisch mit den Händen
über ihrem Kopf. "Außerdem ist doch gestern
gar nichts passiert. Siehst du hier irgendwelche Einschlagslöcher?
Nein? Ich auch nicht. Wir können doch einfach hier bleiben
und uns wieder im Keller verstecken, wenn es Fliegeralarm geben
sollte."
|
|
Doch sie hatte sich den falschen Zeitpunkt ausgesucht, um aufmüpfig
zu sein. Joanna war nicht in der Stimmung, um mit sich reden
zu lassen. "Du wirst gleich mit deinem Bruder, deinem Vater
und dem Rest der Familie in den Wagen steigen. Diese Entscheidung
steht nicht zur Debatte. Wir hatten gestern einfach wahnsinniges
Glück, das ist alles. Glaubst du wirklich, unser Keller
würde einen Raketeneinschlag überstehen? Das bezweifle
ich nämlich stark. Und hör auf, so ein Gesicht zu
ziehen. Die ganze Situation ist schon schwer genug, ohne dass
du uns allen auch noch schlechte Laune bereitest."
|
|
Joannas Nerven lagen immer noch blank. Der gestrige Vorfall
saß ihr tiefer in den Knochen, als sie es sich eingestehen
wollte. Daher fiel ihr Verhalten ihrer Tochter gegenüber
auch härter aus, als es angemessen wäre. Aber Magda
wäre nicht Joannas Tochter, wenn sie sich das so einfach
bieten lassen würde. "Warum kommst du dann nicht mit
uns mit, wenn es hier in SimCity so gefährlich ist?",
fragte sie trotzig. Genau in dem Moment betrat Tobias das Zimmer.
"Du weißt ganz genau, dass deine Mutter beruflich
fest eingespannt ist. Sie trägt viel Verantwortung in ihrer
Firma und kann nicht einfach hier weg."
|
|
"Ach ja, ich vergaß", erwiderte Magda, wobei
ihre Stimme vor Ironie triefte. "Wenn Mama sich bloß
einen Tag nicht darum kümmert, dass genügend Fertigfraß
und Tomatensaft in die Flugzeuge geladen wird, dann geht gleich
die Welt unter. Zumal gerade sooo viele Flugzeuge unterwegs
sind." Joanna hatte eindeutig genug. "Pack deinen
Koffer fertig und sei in fünf Minuten unten", herrschte
sie ihre Tochter an. Die beiden funkelten sich noch einen Augenblick
finster an, doch dann verließ Joanna den Raum.
|
|
Als ihre Mutter fort war, schaute Magdalena wütend und
traurig zugleich auf ihren Koffer herunter. Tobias ging langsam
auf sie zu und strich ihr behutsam über den Rücken.
"Schatz, du weißt doch selbst, dass deine Mutter
nur das Beste für uns will. Und glaub mir, sie würde
gerne mit uns mitkommen, wenn sie nur könnte. Also komm,
schluck deinen Ärger hinunter, pack deinen Koffer und dann
komm nach unten." Magdalena blickte noch eine Weile stumm
auf den Koffer, doch dann nickte sie zustimmend.
|
|
Der Streit war laut genug gewesen, dass ich ihn gut aus dem
Nachbarzimmer mit verfolgen konnte. Als Joanna Magdas Zimmer
verließ, ging sie in das Schlafzimmer, wo ich gerade ihren
Kleiderschrank auf der Suche nach weiteren Kleidungsstücken,
die ich mir ausleihen könnte, durchforstete. Joanna war
immer noch angespannt und lief wie ein Tiger im Käfig hinter
mir auf und ab. "Deine Kinder wissen also nichts von deinem
'Beruf'", stellte ich mehr fest, als dass ich fragte, während
ich eine Jeans aus der Schublade zog.
|
|
"Natürlich wissen sie nichts", antwortet meine
Schwester. "Oder zumindest sollten sie nichts wissen. Jakób
ist noch zu jung, aber Magda merkt eindeutig, dass etwas mit
meinem Job nicht stimmt. Lange werde ich es nicht mehr verheimlich
können." "Da hast du wohl Recht", entgegnete
ich. "Als wir beide in ihrem Alter waren, war uns doch
auch klar, dass irgendetwas mit Dads Job komisch war. Ich sag
nur 'Handelsvertreter'. Es ist echt unfassbar, dass Dad geglaubt
hat, wir würden ihm die Geschichte abnehmen. Allerdings
muss ich zugeben, dass meine Fantasie dann doch nicht ausgereicht
hat, um mir Dad als Dieb und Trickbetrüger vorzustellen.
Ich dachte eher, dass er seine Zeit mit Glücksspiel im
Casino, statt mit ehrlicher Arbeit verdient."
|
|
Wir mussten beide lachen und das tat gut in dieser angespannten
Situation. Ich verstaute die Jeans und einige weitere Dinge
und ging dann mit dem Koffer in der Hand hinunter ins Wohnzimmer,
wo die Kinder bereits warteten. Meine Schwester folgte mir dichtauf.
Ich war schon fast unten angekommen, als Klaudia mich zu sich
rief. "Mami, komm schnell." Sie starrte gebannt auf
den Fernsehbildschirm. "Sie berichten gerade über
ein Flüchtlingslager bei Simtropolis und in einem der Filmausschnitte
konnte ich Tante Brandi ganz deutlich erkennen."
|
|
Ich eilte die letzten Treppenstufen hinunter und stellte den
Koffer auf den Boden ab. Den Blick fest auf den Fernseher gerichtet,
ging ich zum Sofa und setzte mich neben Klaudia. Joanna folgte
meinem Beispiel. In eben diesem Moment wurde eine Karte der
südlichen SimNation eingeblendet und ein Moderator schilderte
die aktuelle Lage. "Ein Schiff der simrokkanischen Marine
konnte gestern mit etwa 5000 Flüchtlingen an Bord die Seeblockade
im Golf von Cádiz durchbrechen und die portugiesische
Küste anlaufen. Nach Verhandlungen zwischen Santa Regina
und Lissabon konnte die Fregatte in den portugiesischen Hafen
Portimão einlaufen. Die an Bord befindlichen Zivilisten
wurden über den Landweg nach Lissabon und von dort aus
in die SimNation überführt. Zurzeit befinden sie sich
in einem provisorischen Lager auf einem ehemaligen Kasernengelände
bei Simtropolis."
|
|
Passend dazu wurden wieder Bilder von Menschen gezeigt, die
sich in einem Lager aus unendlichen Reihen von Zelten einrichteten.
Und da sah auch ich sie. "Mami, da, da war Tante Brandi
gerade wieder", rief Klaudia aufgeregt und zeigte auf den
Bildschirm. Doch diesmal hatte auch ich sie gesehen und zuckte
vor Freunde darüber, dass sie gesund war, gleichzeitig
aber auch voller Entsetzen darüber, was sie wohl in den
letzten Tagen erlebt haben musste, zusammen.
|
|
Und noch während ich den Bericht zu Ende sah, formte sich
in meinem Kopf ein Entschluss. "Jojo, ich muss runter nach
Simtropolis", verkündete ich meiner Schwester, als
der Bericht endete. Joanna musterte mich skeptisch. "Warum?",
fragt sie. "Weil dort unten meine Freunde sind. Wenn Brandi
dort ist, dann vermutlich auch Roland. Und wer weiß, wer
sich noch alles nach Simtropolis retten konnte? Ich muss mich
überzeugen, dass es ihnen allen gut geht. Vielleicht wissen
sie auch Neues über die Geschehnisse in Sierra Simlone
Stadt. Meine Schwiegereltern, Gerda…sie sind alle noch
dort unten."
|
|
Meine Schwester wirkte nicht überzeugt. "Es ist einfach
zu gefährlich, Xana. Simtropolis ist nur knapp 100 Kilometer
von der Front entfernt. Du würdest ein viel zu großes
Risiko eingehen, nur um ein paar Freunde wiederzusehen."
Das war ein triftiges Argument. Aber noch etwas anderes trieb
mich an, in das Flüchtlingslager bei Simtropolis zu reisen.
"Was ist, wenn Dominik diesen Fernsehbericht gesehen hat?",
fragte ich meine Schwester mit bitterlicher Stimme. "Was
ist, wenn er mich und die Kinder gerade jetzt in diesem Lager
sucht? Dieser Bericht ist sein einziger Anhaltspunkt auf der
Suche nach uns. Ich muss einfach dort hin um zu sehen, ob er
nicht dort ist. Ich muss es tun."
|
|
Ich flehte meine Schwester regelrecht an, mir ihr Einverständnis
zu geben. "Du lässt dich ja doch nicht davon abbringen",
gab sie schließlich resigniert nach. Mir fiel ein Stein
vom Herzen. "Danke, Jojo", flüsterte ich. "Und
wie willst du dort runter kommen?", fragte Joanna gleich
weiter. Darüber hatte ich mir in der Tat noch keine Gedanken
gemacht. Doch Joanna antwortete selbst für mich. "Du
kannst mein Auto nehmen. Die Autobahnen sind allerdings für
den Zivilverkehr gesperrt. Du wirst also einen Passierschein
benötigen. Ich werde Ewa gleich Bescheid geben, dass sie
dir einen organisieren soll."
|
|
Überglücklich fiel ich meiner Schwester um den Hals.
"Vielen Dank für deine Unterstützung, Jojo."
"Ich bin dir auch noch etwas schuldig, Xana. Betrachte
dies als einen weiteren Teil meiner Gutmachung". Joanna
spielte damit auf die tragischen Ereignisse von vor 13 Jahren
an, als sie mich dazu Zwang, für 'Justice' zu arbeiten,
was beinah mit meinem Tod geendet hätte. Aber ich war überzeugt,
dass meine Schwester mir heute auch geholfen hätte, wenn
sie nicht in meiner Schuld stände. "Versprich mir
nur, dass du nicht lange weg bleibst", flüsterte Joanna
mir zu. "Tobias und die Kinder werden noch heute aufbrechen.
Und sobald du wieder in SimCity bist, wird dich Ewa zu ihnen
bringen."
|
|