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Teil 2:
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In der Nacht wurde Klaudia von einem seltsamen Geräusch geweckt. Irgendetwas knurrt laut und es hörte sich an, als ob Stoff reißen würde. Verschlafen rieb sie sich die Augen und richtete sich im Bett auf. Und dann erkannte sie Goya, die gerade dabei war, ihren Teddy in Fetzen zu reißen.


"Goya, hör auf damit!", schimpfte sie und sprang aus dem Bett. "Böse, Goya, böse! Du weißt doch, dass du nicht ins Haus darfst. Wenn Mama dich erwischt, dann gibt es richtig Ärger. Und meinen Teddy sollst du auch nicht kaputt beißen. Außerdem fressen Hunde keine Bären, merk dir das!". Goya hörte sofort auf, an dem Bäre zu zerren, legte ihre Ohren an und sah Klaudia mit einem ganz mitleidigen Blick an, dass diese den Hund am liebsten gleich wieder geknuddelt hätte.


Hätte Klaudia wahrscheinlich auch, wenn Goya nicht wie die Pest gestunken hätte. "Iiiiih, wo hast du dich den rumgetrieben? Du stinkst ja wie der tote Hamster von Elvira, den sie erst nach zwei Wochen unterm Bett gefunden hat. Los raus mit dir, Goya. Sonst behauptet Kinga wieder, ich würde die ganze Zeit pupsen".


So wie Goya roch, muss sie sich in einem riesigen Kuhfladen gewälzt haben, oder gleich in einer ganzen Vielzahl davon. Dominik erklärte sich dann auch freiwillig dazu bereit, unser Stinktier wieder sauber zu schrubben. Extra für solche Anlasse hatten wir erst kürzlich eine Wasserpumpe mit Holztrog installiert.

 

 


Während Dominik sich mit Goya herumschlug, machte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus nach Seda Azul. Als ich Gerdas Krankenzimmer betrat, strahlte sie, sobald sie erkannte, wer sie da besuchte. Ich holte einen Stuhl aus einer Zimmerecke und stellte ihn zu Gerda ans Bett. "Wie geht es dir, Gerda?", fragte ich noch während ich mich setzte. "Gut, Oxana. Es geht mir sehr gut. Aber schau doch selbst", antwortete meine Freundin.


Sie richtete sich im Bett auf und hob mit Hilfe ihrer Hände ihre gelähmten Beine über die Bettkante. Und plötzlich begann sie sich aufzurichten. Mir bleib der Atem wag, denn sie stand. Sie stand zwar wacklig, aber immerhin, sie stand. Langsam drehte sie sich zu mir um und lächelte mich zufrieden an. "Ich hab doch gesagt, dass es mir blendend geht". Ich konnte nur staunen.


Ich eilte zu ihr hinüber. "Wie ist das bloß möglich, Gerda? Dein Rückenmark war durchtrennt. Die Ärzte hatten doch gesagt, du könntest nie wieder laufen. Es ist ein Wunder!". Gerda grinste zufrieden. "Nein, Oxana, es ist kein Wunder. Das ist einfach die moderne Medizin. Die Ärzte haben mir einen Computerchip ins Rückenmark implantiert. Dieser verbindet die durchtrennten Nervenstränge. Ich wusste nicht, ob es wirklich gelingen würde, deshalb habe ich niemanden etwas gesagt. Nur die Kinder wussten bescheid. Aber selbst sie wissen noch nicht, wie erfolgreich die OP verlaufen ist."


Dann geriet Gerda aber doch ins Straucheln und ich musste sie abstützen, damit sie nicht stürzte. "Ich muss mich noch daran gewöhnen, meine Beine wieder bewegen zu können. Und so ganz habe ich die Kontrolle noch nicht zurück. Ich muss mich richtig anstrengen, um überhaupt eine Bewegung zu vollführen und dann passiert oft noch nicht einmal das, was ich will. Aber die Ärzte meinen, ich bräuchte nur viel Zeit und Übung. Es ist so, als müsste ich noch einmal Laufen lernen. Eigentlich darf ich noch gar nicht aufstehen, aber ich halte es nach all den Jahren im Rollstuhl nicht mehr aus, still da zu sitzen". Übertreiben sollte sie es aber auch nicht, als half ich ihr zurück ins Bett und unterhielt mich noch eine ganze Weile mit ihr, bis eine Schwester mich weg schickte, weil Gerda zu einer Untersuchung musste. Also verabschiedete ich mich von meiner Freundin und versprach ihr, sie bald wieder zu besuchen.

 

 


Mit freudigem Interesse verfolgte ich Gerdas Genesung mit. Ich hoffte inständig, dass meine Freundin bald wieder völlig gesund wurde und wieder laufen konnte. Ebenfalls mit Interesse beobachtete ich, dass ein gewisser Timon immer öfter Gast in unserem Hause war. Zuerst dachte ich mir noch nicht viel dabei, aber dann bemerkte ich die Blicke, die Kinga diesem Jungen zuwarf. Sie versuchte es so gut es ging zu verbergen, insbesondere vor ihm. Doch wenn er z.B. mit dem nächsten Schachzug beschäftigt war, beobachtete sie intensiv jedes Detail an ihm.


Timon war der jünger Bruder von Marissa, der Freundin von Kinga, die auch auf ihrer Party war. Er ging in die neunte Klasse und war somit einen Jahrgang über Kinga. Die Augen meiner Ältesten leuchteten regelrecht, wenn dieser Junge zu Besuch kam und sie bekam regelmäßig weiche Knie. Und wenn sie von ihm sprach, dann glich dies einer Lobeshymne. Allerdings fehlte ihr bis jetzt der Mut, Timon zu sagen, wie toll sie ihn doch fand. Insgeheim hoffte sie, dass er den ersten Schritt wagen würde.


„Mama, kann ich mit dir über etwas reden?", kam Kinga eines Nachmittags auf mich zu. Ihrem Tonfall nach zu Urteilen klang es wichtig. Wollte sie etwa über Timon mit mir reden? Er schien ein netter Junge zu sein, trotzdem war mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass meine Tochter sich schon für Jungs interessierte. Doch meine Vermutung war falsch. Kinga hatte etwas ganz anderes auf dem Herzen.


Nervös begann sie mir beim Abräumen des Mittagstisches zu helfen. "Du, Mama, ich würde nach der Schule gerne einen Job annehmen. Würden Papa und du mir das erlauben?". Kinga wollte arbeiten? Gut, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich stellte die dreckigen Teller beiseite um meine ganze Aufmerksamkeit ihr zu widmen. "Einen Job?", fragte ich skeptisch. "Du bekommst doch Taschengeld von uns. Und wird dir das neben der Schule nicht zu viel? Die Hausaufgaben werden nicht weniger, nur weil du arbeitest."


"Mama, ich bin wirklich gut in der Schule!", begann sie zu quengeln. "Ich stehe in fast jedem Fach eins. Ich glaube nicht, dass ich durch einen Job schlechter in der Schule würde. Und selbst wenn, an einer zwei ist doch nichts auszusetzen". Nun gut, dass sah ich etwas anders. Noten waren wichtig, insbesondere, wenn sie später einmal zur Uni gehen wollte. Aber ich ließ mich erweichen. "An was für einen Job hast du denn so gedacht?"


Augenblicklich strahlte Kinga. "Ich hab schon mit dem Direktor an meiner Schule gesprochen. Ich könnte nach dem Unterricht die Schüler der unteren Klassen betreuen und ihnen bei den Hausaufgaben helfen. Direktor Jacoby meinte sogar, dass diese Tätigkeit in mein Zeugnis aufgenommen wird und ich dadurch bessere Chancen an der Uni hätte. Außerdem lerne ich bestimmt auch etwas dabei". Schön, ich war überzeugt. "Gut, Kinga, wenn du unbedingt möchtest, dann geh nach der Schule arbeiten. Falls deine Noten wirklich zu sehr absinken sollten, können wir ja immer noch darüber reden. Und mach dir keine Gedanken um deinen Vater. Ich werde ihn schon überzeugen, dass es in Ordnung ist".


Dominik hatte in der Tat nichts einzuwenden. Er war sogar der Meinung, dass ein wenig Selbstständigkeit Kinga ganz gut tun würde. Zum Mittagessen kam Kinga nach der Schule noch einmal nach hause, bevor sie dann von einer wenig vertrauenserweckenden Fahrgemeinschaft wieder mitgenommen wurde. Kinga freute sich wirklich auf ihre neue Aufgabe und natürlich auf das Geld, das diese ihr bescheren würde. Aber auf die pinke Arbeitsuniform, die sie wie eine spießige Lehrerin in ihren Vierzigern wirken ließ, hätte sie gut verzichten können.


Über so etwas wie einen Job machte sich Klaudia überhaupt keine Gedanken. Sie war nur froh, wenn sie aus der Schule kam und dann spielen konnte. Zurzeit war "Räuber und Gandarm" total angesagt. Ständig lief sie mit ihren Freunden kreuz und quer durch das ganze Haus und den Garten. Die Simlane 10 war dann erfüllt von lautem "Peng, Peng" und den erbitterten Todesqualen des Räubers, wenn er vom jubelnden Gandarmen zur Strecke gebracht wurde.


Kinga hingegen stellte schnell fest, dass es gar nicht so leicht war, Schule und Job unter einen Hut zu bringen. Wenn sie abends von ihrer Arbeit als Hilfslehrerin zurückkam, hätte sie sich am liebsten auch vor den Fernseher gesetzt oder sich in ein gutes Buch vertieft. Aber nein, auf sie wartete ein Berg eigener Hausaufgaben, den sie an manchen Tagen am liebsten in der Luft zerfetzt hätte. Aber das wäre keine Lösung, das war ihr klar. Und so leicht würde sie sich nicht unterkriegen lassen.


Und zur Not musste sie morgens halt eine Stunde früher aufstehen und das nachholen, was sie am Tag zuvor nicht mehr geschafft hat. Es fiel ihr zwar schwer, sich morgens aus dem Bett zu quälen, aber es war immer noch besser, als wenn sie ohne Hausaufgaben zur Schule ginge.

 

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