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In der Nacht wurde Klaudia von einem seltsamen Geräusch geweckt.
Irgendetwas knurrt laut und es hörte sich an, als ob Stoff
reißen würde. Verschlafen rieb sie sich die Augen und
richtete sich im Bett auf. Und dann erkannte sie Goya, die gerade
dabei war, ihren Teddy in Fetzen zu reißen.
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"Goya, hör auf damit!", schimpfte sie und sprang
aus dem Bett. "Böse, Goya, böse! Du weißt
doch, dass du nicht ins Haus darfst. Wenn Mama dich erwischt,
dann gibt es richtig Ärger. Und meinen Teddy sollst du auch
nicht kaputt beißen. Außerdem fressen Hunde keine
Bären, merk dir das!". Goya hörte sofort auf, an
dem Bäre zu zerren, legte ihre Ohren an und sah Klaudia mit
einem ganz mitleidigen Blick an, dass diese den Hund am liebsten
gleich wieder geknuddelt hätte.
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Hätte Klaudia wahrscheinlich auch, wenn Goya nicht wie die
Pest gestunken hätte. "Iiiiih, wo hast du dich den rumgetrieben?
Du stinkst ja wie der tote Hamster von Elvira, den sie erst nach
zwei Wochen unterm Bett gefunden hat. Los raus mit dir, Goya.
Sonst behauptet Kinga wieder, ich würde die ganze Zeit pupsen".
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So wie Goya roch, muss sie sich in einem riesigen Kuhfladen gewälzt
haben, oder gleich in einer ganzen Vielzahl davon. Dominik erklärte
sich dann auch freiwillig dazu bereit, unser Stinktier wieder
sauber zu schrubben. Extra für solche Anlasse hatten wir
erst kürzlich eine Wasserpumpe mit Holztrog installiert.
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Während Dominik sich mit Goya herumschlug, machte ich mich
auf den Weg ins Krankenhaus nach Seda Azul. Als ich Gerdas Krankenzimmer
betrat, strahlte sie, sobald sie erkannte, wer sie da besuchte.
Ich holte einen Stuhl aus einer Zimmerecke und stellte ihn zu
Gerda ans Bett. "Wie geht es dir, Gerda?", fragte ich
noch während ich mich setzte. "Gut, Oxana. Es geht mir
sehr gut. Aber schau doch selbst", antwortete meine Freundin.
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Sie richtete sich im Bett auf und hob mit Hilfe ihrer Hände
ihre gelähmten Beine über die Bettkante. Und plötzlich
begann sie sich aufzurichten. Mir bleib der Atem wag, denn sie
stand. Sie stand zwar wacklig, aber immerhin, sie stand. Langsam
drehte sie sich zu mir um und lächelte mich zufrieden an.
"Ich hab doch gesagt, dass es mir blendend geht". Ich
konnte nur staunen.
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Ich eilte zu ihr hinüber. "Wie ist das bloß möglich,
Gerda? Dein Rückenmark war durchtrennt. Die Ärzte hatten
doch gesagt, du könntest nie wieder laufen. Es ist ein Wunder!".
Gerda grinste zufrieden. "Nein, Oxana, es ist kein Wunder.
Das ist einfach die moderne Medizin. Die Ärzte haben mir
einen Computerchip ins Rückenmark implantiert. Dieser verbindet
die durchtrennten Nervenstränge. Ich wusste nicht, ob es
wirklich gelingen würde, deshalb habe ich niemanden etwas
gesagt. Nur die Kinder wussten bescheid. Aber selbst sie wissen
noch nicht, wie erfolgreich die OP verlaufen ist."
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Dann geriet Gerda aber doch ins Straucheln und ich musste sie
abstützen, damit sie nicht stürzte. "Ich muss mich
noch daran gewöhnen, meine Beine wieder bewegen zu können.
Und so ganz habe ich die Kontrolle noch nicht zurück. Ich
muss mich richtig anstrengen, um überhaupt eine Bewegung
zu vollführen und dann passiert oft noch nicht einmal das,
was ich will. Aber die Ärzte meinen, ich bräuchte nur
viel Zeit und Übung. Es ist so, als müsste ich noch
einmal Laufen lernen. Eigentlich darf ich noch gar nicht aufstehen,
aber ich halte es nach all den Jahren im Rollstuhl nicht mehr
aus, still da zu sitzen". Übertreiben sollte sie es
aber auch nicht, als half ich ihr zurück ins Bett und unterhielt
mich noch eine ganze Weile mit ihr, bis eine Schwester mich weg
schickte, weil Gerda zu einer Untersuchung musste. Also verabschiedete
ich mich von meiner Freundin und versprach ihr, sie bald wieder
zu besuchen.
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Mit freudigem Interesse verfolgte ich Gerdas Genesung mit. Ich
hoffte inständig, dass meine Freundin bald wieder völlig
gesund wurde und wieder laufen konnte. Ebenfalls mit Interesse
beobachtete ich, dass ein gewisser Timon immer öfter Gast
in unserem Hause war. Zuerst dachte ich mir noch nicht viel dabei,
aber dann bemerkte ich die Blicke, die Kinga diesem Jungen zuwarf.
Sie versuchte es so gut es ging zu verbergen, insbesondere vor
ihm. Doch wenn er z.B. mit dem nächsten Schachzug beschäftigt
war, beobachtete sie intensiv jedes Detail an ihm.
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Timon war der jünger Bruder von Marissa, der Freundin von
Kinga, die auch auf ihrer Party war. Er ging in die neunte Klasse
und war somit einen Jahrgang über Kinga. Die Augen meiner
Ältesten leuchteten regelrecht, wenn dieser Junge zu Besuch
kam und sie bekam regelmäßig weiche Knie. Und wenn
sie von ihm sprach, dann glich dies einer Lobeshymne. Allerdings
fehlte ihr bis jetzt der Mut, Timon zu sagen, wie toll sie ihn
doch fand. Insgeheim hoffte sie, dass er den ersten Schritt wagen
würde.
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„Mama, kann ich mit dir über etwas reden?", kam
Kinga eines Nachmittags auf mich zu. Ihrem Tonfall nach zu Urteilen
klang es wichtig. Wollte sie etwa über Timon mit mir reden?
Er schien ein netter Junge zu sein, trotzdem war mir nicht wohl
bei dem Gedanken, dass meine Tochter sich schon für Jungs
interessierte. Doch meine Vermutung war falsch. Kinga hatte etwas
ganz anderes auf dem Herzen.
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Nervös begann sie mir beim Abräumen des Mittagstisches
zu helfen. "Du, Mama, ich würde nach der Schule gerne
einen Job annehmen. Würden Papa und du mir das erlauben?".
Kinga wollte arbeiten? Gut, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich
stellte die dreckigen Teller beiseite um meine ganze Aufmerksamkeit
ihr zu widmen. "Einen Job?", fragte ich skeptisch. "Du
bekommst doch Taschengeld von uns. Und wird dir das neben der
Schule nicht zu viel? Die Hausaufgaben werden nicht weniger, nur
weil du arbeitest."
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"Mama, ich bin wirklich gut in der Schule!", begann
sie zu quengeln. "Ich stehe in fast jedem Fach eins. Ich
glaube nicht, dass ich durch einen Job schlechter in der Schule
würde. Und selbst wenn, an einer zwei ist doch nichts auszusetzen".
Nun gut, dass sah ich etwas anders. Noten waren wichtig, insbesondere,
wenn sie später einmal zur Uni gehen wollte. Aber ich ließ
mich erweichen. "An was für einen Job hast du denn so
gedacht?"
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Augenblicklich strahlte Kinga. "Ich hab schon mit dem Direktor
an meiner Schule gesprochen. Ich könnte nach dem Unterricht
die Schüler der unteren Klassen betreuen und ihnen bei den
Hausaufgaben helfen. Direktor Jacoby meinte sogar, dass diese
Tätigkeit in mein Zeugnis aufgenommen wird und ich dadurch
bessere Chancen an der Uni hätte. Außerdem lerne ich
bestimmt auch etwas dabei". Schön, ich war überzeugt.
"Gut, Kinga, wenn du unbedingt möchtest, dann geh nach
der Schule arbeiten. Falls deine Noten wirklich zu sehr absinken
sollten, können wir ja immer noch darüber reden. Und
mach dir keine Gedanken um deinen Vater. Ich werde ihn schon überzeugen,
dass es in Ordnung ist".
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Dominik hatte in der Tat nichts einzuwenden. Er war sogar der
Meinung, dass ein wenig Selbstständigkeit Kinga ganz gut
tun würde. Zum Mittagessen kam Kinga nach der Schule noch
einmal nach hause, bevor sie dann von einer wenig vertrauenserweckenden
Fahrgemeinschaft wieder mitgenommen wurde. Kinga freute sich wirklich
auf ihre neue Aufgabe und natürlich auf das Geld, das diese
ihr bescheren würde. Aber auf die pinke Arbeitsuniform, die
sie wie eine spießige Lehrerin in ihren Vierzigern wirken
ließ, hätte sie gut verzichten können.
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Über so etwas wie einen Job machte sich Klaudia überhaupt
keine Gedanken. Sie war nur froh, wenn sie aus der Schule kam
und dann spielen konnte. Zurzeit war "Räuber und Gandarm"
total angesagt. Ständig lief sie mit ihren Freunden kreuz
und quer durch das ganze Haus und den Garten. Die Simlane 10 war
dann erfüllt von lautem "Peng, Peng" und den erbitterten
Todesqualen des Räubers, wenn er vom jubelnden Gandarmen
zur Strecke gebracht wurde.
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Kinga hingegen stellte schnell fest, dass es gar nicht so leicht
war, Schule und Job unter einen Hut zu bringen. Wenn sie abends
von ihrer Arbeit als Hilfslehrerin zurückkam, hätte
sie sich am liebsten auch vor den Fernseher gesetzt oder sich
in ein gutes Buch vertieft. Aber nein, auf sie wartete ein Berg
eigener Hausaufgaben, den sie an manchen Tagen am liebsten in
der Luft zerfetzt hätte. Aber das wäre keine Lösung,
das war ihr klar. Und so leicht würde sie sich nicht unterkriegen
lassen.
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Und zur Not musste sie morgens halt eine Stunde früher aufstehen
und das nachholen, was sie am Tag zuvor nicht mehr geschafft hat.
Es fiel ihr zwar schwer, sich morgens aus dem Bett zu quälen,
aber es war immer noch besser, als wenn sie ohne Hausaufgaben
zur Schule ginge.
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