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Irgendwann hörte ich ein Geräusch…eine rostige
Tür, die in den Angeln knartschte. Gott hatte mich also nicht
erhört. Ich lag immer noch auf dem kalten, feuchten Boden.
Ich hörte Schritte, die auf mich zukamen. Es würde also
weiter gehen. Ich konnte nicht mehr. Noch einmal würde ich
diese Qualen nicht ertragen können.
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Die Person beugte sich zu mir herunter und streckte ihre Hand
aus. Ich konnte es verschwommen aus dem Augenwinkel erkennen.
Hätte ich die Kraft gehabt, wäre ich zurückgewichen.
Aber so konnte ich nur voller Angst auf den Schmerz warten. Doch
stattdessen strich diese Hand mir sanft eine blutige Strähne
aus dem Gesicht und streichelte meine Wange. Ich begann zu zittern,
denn diese plötzliche Zärtlichkeit konnte nur ein perverses
Spiel sein, um mich weiter zu quälen. „Oxana, Oxana
komm zu dir“, redete die Stimme beruhigend auf mich ein.
Sie kam mir seltsam bekannt vor. „Du musst wieder zu dir
kommen. Du musst fliehen. Beeil dich“. Die Stimme klang
sanft, aber ich hörte die Dringlichkeit darin.
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Unter größter Anstrengung, hob ich meinen Kopf. Alles
drehte sich und die Sicht vor meinen Augen verschwamm. Die Person,
dieser unbekannte Mann, half mir, mich auf zu richten und stützte
mich mit kräftigem Griff. „Oxana, hör mir genau
zu. Folge dem Gang nach rechts und dann an der Gabelung noch einmal
nach rechts“, flüsterte er in mein Ohr. „Am Ende
des Gangs kommst zu einer Leiter. Die musst du hinauf klettern.
Es wird schwer, aber es ist der einzige Weg hier raus. Du kommst
in einem Wald raus. Wenn du draußen bist, läufst du
nach Süden. Lauf einfach auf die Bergekette zu. Nach etwa
fünf Kilometern stößt du auf eine viel befahrene
Straße. Wenn du es bis dahin schaffst, dann bist du in Sicherheit.
Es tut mir Leid, dass ich nicht mehr für dich tun kann. Mir
tut so viel Leid. Verzeih mir, Tochter“.
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Er ließ mich los und ich viel benommen zurück und stützte
mich an der Wand ab, so gut es ging. Dann war der Mann wieder
verschwunden. Ich drohte wieder in Ohnmacht zu fallen, doch dann
drangen seien Worte an mein Ohr. Er hatte mich Tochter genannt!
Schlagartig wurde ich wieder klar im Kopf. War das möglich?
Die Stimme, sie kam mir gleich so vertraut vor, auch wenn ich
sie seit Jahren nicht gehört hatte? War es möglich,
dass... Dad gerade hier in meinem dunklen Verlies gewesen ist?
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Aber er war doch tot? Er war vor fünf Jahren mit seiner Jacht
auf dem Atlantik in einen Sturm geraten und ums Leben gekommen.
Es musste ein Traum gewesen sein. Oder eine Halluzination. Oder
es war einfach nur ein fremder Mann. Aber er hatte mich Oxana
genannt! Er wusste genau, dass ich nicht Joanna war. Das konnte
nur Dad wissen. Aber das war unmöglich, es musste also doch
ein Traum gewesen sein. Egal, was es war, ich war wieder hell
wach. Mein ganzer Körper schmerzte und ich musste mich zusammenreißen,
um nicht laut aufzuschreien, aber ich rappelte mich auf. Die Tür!
Sie war offen! Es war also wirklich jemand bei mir gewesen.
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Vorsichtig spähte ich hinaus in den Gang. Er war kaum beleuchtet
und in den Schatten konnte sich leicht jemand verstecken. Aber
ich musste es riskieren. Wenn ich hier leben raus wollte, musste
ich vertrauen, dass dieser Mann, wer immer er auch war, mir den
richtigen Weg beschrieben hatte.
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Also lief ich los. Besser gesagt, ich humpelte, denn mein linkes
Bein tat höllisch weh. Ich erkannte eine tiefe Wunde auf
dem Oberschenkel, die immer noch blutete, doch ich hatte keine
Zeit, mich damit zu beschäftigen. Ich musste weiter. Plötzlich
gefror mein Herz. Ich hörte schwere Schritte auf dem kahlen
Betonboden widerhallen. Sie wurden immer lauter, also kam jemand
direkt auf mich zu. Ich blickte mich hastig um, doch ich konnte
mich nirgends verstecken. Was sollte ich bloß tun?
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Doch es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Plötzlich bog dieser
Schrank von einem Mann um die Ecke und lief direkt in mich hinein.
Zu meinem Glück war er genauso erstaunt mich zu sehen, wie
ich erstaunt war, als ich seien Schritte näher kommen hörte.
Aber ich hatte ihn zuerst gehört. Und dieser Bruchteil einer
Sekunde, den er brauchte, um zu verstehen, was hier vor sich ging
genügte, um mir den entscheidenden Vorteil zu verschaffen.
Geistesgegenwärtig trat ich zu und schlug die Waffe aus seiner
Hand. Und bevor er reagieren könnte, trat ich mit aller Wucht,
die ich aufbringen konnte gegen seinen Brustkorb.
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Er taumelte zurück. Doch jetzt sah er, dass nur eine kleine,
schwache Frau vor ihm stand. Blutüberströmt und verletzt.
Er fühlte sich überlegen, und das zu Recht. Doch in
meinem Inneren breitete sich eine ungekannte Wut aus. Ich würde
nicht in diesem Drecksloch sterben. Ich würde es nicht zulassen.
Und ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm. Aber ich trat
zu und erwischte diesen Kerl genau unter seinem Kinn. Alles was
ich über Kampfsport wusste, hatte ich in diesen einen Tritt
gesetzt.
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Und plötzlich sackte der Kerl wie ein schwerer Sandsack in
sich zusammen und fiel krachend auf den Boden. Erschrocken blickte
ich auf seinen regungslosen Körper, der vor mir lag. War
er etwa tot? Ich wollte es gar nicht wissen. Zitternd hockte ich
mich zu ihm herunter und griff nach seiner Pistole. Mit der Waffe
in der Hand rannte ich weiter, ohne auch nur noch einen Gedanken
an ihn zu verschwenden.
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Ich rannte, so schnell mich meine müden Beine es zuließen.
Doch ich spürte, dass mir langsam die Kraft ausging. Aber
ich durfte nicht aufgeben. Ich musste es hier heraus schaffen.
Bilder schossen durch meinen Kopf. Bilder von Dominik, wie er
mich in seinem Arm hielt. Bilder von Kinga und Klaudia, meinen
zwei kleinen Mädchen. Wenn ich es hier nicht hinaus schaffen
würde, würde ich niemals sehen, wie mein Pummelchen
in die Schule kam, wie Kinga ihre erste große Liebe traf,
wie sie zur Uni ging. Nein, ich musste kämpfen. Für
meine Familie musste ich das überstehen.
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Ich bog um die nächste Ecke und in etwa 50 Metern Entfernung
konnte ich im Zwielicht einer Lampe die ersehnte Leiter sehen,
die mich in meine Freiheit führen würde. Es waren nur
noch wenige Meter. „Bleib sofort stehen, Joanna“.
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Giovannis Stimme hallte in dem engen Gang wider. Innerlich sank
ich zusammen. Jetzt war alles vorbei. Jetzt kam ich nicht mehr
lebend hier heraus. Der Weg in die Freiheit war so nah und doch
unerreichbar für mich. „Ich weiß zwar nicht,
wie du es geschafft hast zu fliehen, aber deine Flucht hat hier
ein Ende, Joanna!“ Kinga! Klaudia! Dominik! Nein, hier würde
ich nicht enden! Ich straffte meine Schultern und drehte mich
langsam zu Giovanni um. Er lachte. „Du bist wirklich ein
amüsantes Ding, Joanna. Wir hätten viel Spaß zusammen
haben können. Aber du musstest mich ja betrügen. Und
jetzt sei ein braves Mädchen und komm zu mir. Vielleicht
sehe ich ja über deinen Fluchtversuch hinweg. Immerhin hast
du mich gut unterhalten“.
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Ich hielt meinen Blick aufrecht und ging auf ihn zu. Ich würde
mir keine Blöße mehr vor ihm geben. Nicht noch einmal.
Der Gang war schlecht beleuchtet. Und das war mein Glück,
denn so bemerkte Giovanni erst, dass ich etwas hinter meinem Rücken
verborgen hielt, als es für ihn zu spät war.
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„Was versteckst du da?“, fragte er mehr belustigt
als besorgt und es sollten seine letzten Worte sein. „Ein
Geschenk für dich, Giovanni“. Blitzschnell zog ich
die Pistole hinter meienm Rücken hervor, richtete sie auf
diesen räudigen Widerling und drückte ab.
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Ich sah das Entsetzen in seinen Augen, als die Pistolenkugel seinen
Brustkorb durchschlug. Er konnte es nicht fassen. Er blickte an
sich hinab, sah das Blut, das aus dem Einschussloch quoll. Mit
seinen Händen versuchte er noch, den warmen Blutstrom aufzuhalten,
doch es nützte nichts. Und dann kippte er einfach um. Er
brachte nicht einmal mehr ein letztes Wort zustande. Auch all
seine Grausamkeit konnte ihn nicht mehr vor dem Tod retten.
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Als ich ihn fallen sah, begann meine Hand zu zittern und Pistole
glitt mir aus den Fingern. Meine Knie drohten nachzugeben, doch
ich krallte mich an der Wand fest und schaffte es, mich aufrecht
zu halten. Übelkeit stieg in mir auf und die konnte ich nicht
unterdrücken. Ich übergab mich noch an Ort und Stelle.
Bebend wischte ich mir das Erbrochene vom Mund und sah ein letztes
Mal auf den Mann, der mich fast zu Tode gefoltert hätte.
Eine Blutlache breitete sich langsam unter ihm aus.
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Dann fiel mir wieder ein, dass ich hier weg musste. Rudolf musste
noch irgendwo hier unten sein und wer wusste schon, was für
dunkle Gestalten sich sonst noch hier herum trieben. Ich wollte
es nicht erfahren. Auf wackligen Beinen schaffte ich es zur Leiter
und kletterte mit letzter Kraft nach oben.
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Die kalte Nachtluft war wie eine Erlösung. Doch sie war auch
trügerisch. Ich spürte, wie die Kraft meine Glieder
verließ und ich drohte, erneut das Bewusstsein zu verlieren.
Ich taumelte einige Schritte in den Wald hinein, bloß weg
von diesem Bunker, in dem ich Höllenqualen erleiden musste.
Aber weit schaffte ich es nicht. Ich brauchte einfach eine Pause
und das weiche Moos auf dem Waldboden war so einladend. Ich ließ
mich fallen und schnappte nach Luft. Nur ein paar Minuten. Ich
musste mich nur ein paar Minuten ausruhen.
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