Teil 1: 1 2 3 4 5 6 7 8
Teil 2:
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Irgendwann hörte ich ein Geräusch…eine rostige Tür, die in den Angeln knartschte. Gott hatte mich also nicht erhört. Ich lag immer noch auf dem kalten, feuchten Boden. Ich hörte Schritte, die auf mich zukamen. Es würde also weiter gehen. Ich konnte nicht mehr. Noch einmal würde ich diese Qualen nicht ertragen können.


Die Person beugte sich zu mir herunter und streckte ihre Hand aus. Ich konnte es verschwommen aus dem Augenwinkel erkennen. Hätte ich die Kraft gehabt, wäre ich zurückgewichen. Aber so konnte ich nur voller Angst auf den Schmerz warten. Doch stattdessen strich diese Hand mir sanft eine blutige Strähne aus dem Gesicht und streichelte meine Wange. Ich begann zu zittern, denn diese plötzliche Zärtlichkeit konnte nur ein perverses Spiel sein, um mich weiter zu quälen. „Oxana, Oxana komm zu dir“, redete die Stimme beruhigend auf mich ein. Sie kam mir seltsam bekannt vor. „Du musst wieder zu dir kommen. Du musst fliehen. Beeil dich“. Die Stimme klang sanft, aber ich hörte die Dringlichkeit darin.


Unter größter Anstrengung, hob ich meinen Kopf. Alles drehte sich und die Sicht vor meinen Augen verschwamm. Die Person, dieser unbekannte Mann, half mir, mich auf zu richten und stützte mich mit kräftigem Griff. „Oxana, hör mir genau zu. Folge dem Gang nach rechts und dann an der Gabelung noch einmal nach rechts“, flüsterte er in mein Ohr. „Am Ende des Gangs kommst zu einer Leiter. Die musst du hinauf klettern. Es wird schwer, aber es ist der einzige Weg hier raus. Du kommst in einem Wald raus. Wenn du draußen bist, läufst du nach Süden. Lauf einfach auf die Bergekette zu. Nach etwa fünf Kilometern stößt du auf eine viel befahrene Straße. Wenn du es bis dahin schaffst, dann bist du in Sicherheit. Es tut mir Leid, dass ich nicht mehr für dich tun kann. Mir tut so viel Leid. Verzeih mir, Tochter“.


Er ließ mich los und ich viel benommen zurück und stützte mich an der Wand ab, so gut es ging. Dann war der Mann wieder verschwunden. Ich drohte wieder in Ohnmacht zu fallen, doch dann drangen seien Worte an mein Ohr. Er hatte mich Tochter genannt! Schlagartig wurde ich wieder klar im Kopf. War das möglich? Die Stimme, sie kam mir gleich so vertraut vor, auch wenn ich sie seit Jahren nicht gehört hatte? War es möglich, dass... Dad gerade hier in meinem dunklen Verlies gewesen ist?


Aber er war doch tot? Er war vor fünf Jahren mit seiner Jacht auf dem Atlantik in einen Sturm geraten und ums Leben gekommen. Es musste ein Traum gewesen sein. Oder eine Halluzination. Oder es war einfach nur ein fremder Mann. Aber er hatte mich Oxana genannt! Er wusste genau, dass ich nicht Joanna war. Das konnte nur Dad wissen. Aber das war unmöglich, es musste also doch ein Traum gewesen sein. Egal, was es war, ich war wieder hell wach. Mein ganzer Körper schmerzte und ich musste mich zusammenreißen, um nicht laut aufzuschreien, aber ich rappelte mich auf. Die Tür! Sie war offen! Es war also wirklich jemand bei mir gewesen.


Vorsichtig spähte ich hinaus in den Gang. Er war kaum beleuchtet und in den Schatten konnte sich leicht jemand verstecken. Aber ich musste es riskieren. Wenn ich hier leben raus wollte, musste ich vertrauen, dass dieser Mann, wer immer er auch war, mir den richtigen Weg beschrieben hatte.


Also lief ich los. Besser gesagt, ich humpelte, denn mein linkes Bein tat höllisch weh. Ich erkannte eine tiefe Wunde auf dem Oberschenkel, die immer noch blutete, doch ich hatte keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Ich musste weiter. Plötzlich gefror mein Herz. Ich hörte schwere Schritte auf dem kahlen Betonboden widerhallen. Sie wurden immer lauter, also kam jemand direkt auf mich zu. Ich blickte mich hastig um, doch ich konnte mich nirgends verstecken. Was sollte ich bloß tun?


Doch es blieb keine Zeit zum Nachdenken. Plötzlich bog dieser Schrank von einem Mann um die Ecke und lief direkt in mich hinein. Zu meinem Glück war er genauso erstaunt mich zu sehen, wie ich erstaunt war, als ich seien Schritte näher kommen hörte. Aber ich hatte ihn zuerst gehört. Und dieser Bruchteil einer Sekunde, den er brauchte, um zu verstehen, was hier vor sich ging genügte, um mir den entscheidenden Vorteil zu verschaffen. Geistesgegenwärtig trat ich zu und schlug die Waffe aus seiner Hand. Und bevor er reagieren könnte, trat ich mit aller Wucht, die ich aufbringen konnte gegen seinen Brustkorb.


Er taumelte zurück. Doch jetzt sah er, dass nur eine kleine, schwache Frau vor ihm stand. Blutüberströmt und verletzt. Er fühlte sich überlegen, und das zu Recht. Doch in meinem Inneren breitete sich eine ungekannte Wut aus. Ich würde nicht in diesem Drecksloch sterben. Ich würde es nicht zulassen. Und ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm. Aber ich trat zu und erwischte diesen Kerl genau unter seinem Kinn. Alles was ich über Kampfsport wusste, hatte ich in diesen einen Tritt gesetzt.


Und plötzlich sackte der Kerl wie ein schwerer Sandsack in sich zusammen und fiel krachend auf den Boden. Erschrocken blickte ich auf seinen regungslosen Körper, der vor mir lag. War er etwa tot? Ich wollte es gar nicht wissen. Zitternd hockte ich mich zu ihm herunter und griff nach seiner Pistole. Mit der Waffe in der Hand rannte ich weiter, ohne auch nur noch einen Gedanken an ihn zu verschwenden.


Ich rannte, so schnell mich meine müden Beine es zuließen. Doch ich spürte, dass mir langsam die Kraft ausging. Aber ich durfte nicht aufgeben. Ich musste es hier heraus schaffen. Bilder schossen durch meinen Kopf. Bilder von Dominik, wie er mich in seinem Arm hielt. Bilder von Kinga und Klaudia, meinen zwei kleinen Mädchen. Wenn ich es hier nicht hinaus schaffen würde, würde ich niemals sehen, wie mein Pummelchen in die Schule kam, wie Kinga ihre erste große Liebe traf, wie sie zur Uni ging. Nein, ich musste kämpfen. Für meine Familie musste ich das überstehen.


Ich bog um die nächste Ecke und in etwa 50 Metern Entfernung konnte ich im Zwielicht einer Lampe die ersehnte Leiter sehen, die mich in meine Freiheit führen würde. Es waren nur noch wenige Meter. „Bleib sofort stehen, Joanna“.


Giovannis Stimme hallte in dem engen Gang wider. Innerlich sank ich zusammen. Jetzt war alles vorbei. Jetzt kam ich nicht mehr lebend hier heraus. Der Weg in die Freiheit war so nah und doch unerreichbar für mich. „Ich weiß zwar nicht, wie du es geschafft hast zu fliehen, aber deine Flucht hat hier ein Ende, Joanna!“ Kinga! Klaudia! Dominik! Nein, hier würde ich nicht enden! Ich straffte meine Schultern und drehte mich langsam zu Giovanni um. Er lachte. „Du bist wirklich ein amüsantes Ding, Joanna. Wir hätten viel Spaß zusammen haben können. Aber du musstest mich ja betrügen. Und jetzt sei ein braves Mädchen und komm zu mir. Vielleicht sehe ich ja über deinen Fluchtversuch hinweg. Immerhin hast du mich gut unterhalten“.


Ich hielt meinen Blick aufrecht und ging auf ihn zu. Ich würde mir keine Blöße mehr vor ihm geben. Nicht noch einmal. Der Gang war schlecht beleuchtet. Und das war mein Glück, denn so bemerkte Giovanni erst, dass ich etwas hinter meinem Rücken verborgen hielt, als es für ihn zu spät war.


„Was versteckst du da?“, fragte er mehr belustigt als besorgt und es sollten seine letzten Worte sein. „Ein Geschenk für dich, Giovanni“. Blitzschnell zog ich die Pistole hinter meienm Rücken hervor, richtete sie auf diesen räudigen Widerling und drückte ab.


Ich sah das Entsetzen in seinen Augen, als die Pistolenkugel seinen Brustkorb durchschlug. Er konnte es nicht fassen. Er blickte an sich hinab, sah das Blut, das aus dem Einschussloch quoll. Mit seinen Händen versuchte er noch, den warmen Blutstrom aufzuhalten, doch es nützte nichts. Und dann kippte er einfach um. Er brachte nicht einmal mehr ein letztes Wort zustande. Auch all seine Grausamkeit konnte ihn nicht mehr vor dem Tod retten.


Als ich ihn fallen sah, begann meine Hand zu zittern und Pistole glitt mir aus den Fingern. Meine Knie drohten nachzugeben, doch ich krallte mich an der Wand fest und schaffte es, mich aufrecht zu halten. Übelkeit stieg in mir auf und die konnte ich nicht unterdrücken. Ich übergab mich noch an Ort und Stelle. Bebend wischte ich mir das Erbrochene vom Mund und sah ein letztes Mal auf den Mann, der mich fast zu Tode gefoltert hätte. Eine Blutlache breitete sich langsam unter ihm aus.


Dann fiel mir wieder ein, dass ich hier weg musste. Rudolf musste noch irgendwo hier unten sein und wer wusste schon, was für dunkle Gestalten sich sonst noch hier herum trieben. Ich wollte es nicht erfahren. Auf wackligen Beinen schaffte ich es zur Leiter und kletterte mit letzter Kraft nach oben.


Die kalte Nachtluft war wie eine Erlösung. Doch sie war auch trügerisch. Ich spürte, wie die Kraft meine Glieder verließ und ich drohte, erneut das Bewusstsein zu verlieren. Ich taumelte einige Schritte in den Wald hinein, bloß weg von diesem Bunker, in dem ich Höllenqualen erleiden musste. Aber weit schaffte ich es nicht. Ich brauchte einfach eine Pause und das weiche Moos auf dem Waldboden war so einladend. Ich ließ mich fallen und schnappte nach Luft. Nur ein paar Minuten. Ich musste mich nur ein paar Minuten ausruhen.

 

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