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Nach Stunden des Trainings ging ich erschöpft aber zufrieden
nach Hause. Als ich die Tür öffnete fand ich Dominik
und Klaudia spielend auf dem Wohnzimmerboden. Irgendwas schien
unserem Pummelchen mal wieder nicht zu passen und sie protestierte
lautstark. „Habt ihr schon gegessen, Dominik?“, fragte
ich beiläufig nachdem ich meine Sporttasche in einer Ecke
verstaut hatte und Dominik einen Kuss gab. „Nee, noch nicht“,
antwortete der, ohne aufzublicken, immer noch in das Spiel mit
Klaudia vertieft.
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Also ging ich in die Küche und bereitet meinem Ehemann und
meiner Tochter das Abendessen zu. Dominik setzte Klaudia in den
Hochsitz und die Kleine wehrte sich zunächst, als ob der
Hochsitz ein furchtbares Gefängnis wäre. "Dada,
hier", rief sie immer wieder und versuchte sich an Dominiks
T-Shirt fest zu klammern.
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Doch als er ihr ihren Brei gab, kehrte Ruhe ein. Klaudia matschte
mit dem Finger in dem Schüsselchen herum und verteilte das
Essen mehr auf sich und dem Stuhl, als das sie aß, aber
immerhin war sie beschäftigt.
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So konnten Dominik und ich selbst in Ruhe essen. „Ich wollte
heute mit ein paar Kollegen raus. Ist das in Ordnung für
dich?“. „Ja“, antwortete ich gleich. „Ich
wünsche Euch schon mal viel Spaß“. Seit unserer
Hochzeit hatte Dominik das Bedürfnis entwickelt, mich um
Erlaubnis zu fragen, wenn er ausgehen wollte. Ich hatte ihm zwar
schon öfter gesagt, dass er machen könne, was er wolle,
doch es änderte nichts an seinem Verhalten.
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Als ich Klaudia gegen sieben ins Bett brachte, war Dominik bereits
außer Hause. Und auch Tristan war nicht da. Er war bei Frank…glaubte
ich. Und Kinga übernachtete heute bei Constance. Das hieß,
ich hatte den ganzen Abend für mich. Klaudia streckte zwar
ihre kleinen Händchen nach mir aus, als ich sie in ihr Bettchen
legte, aber als die leise Musik des Mobiles über ihr ertönte,
fielen ihre Augen wie ganz von selbst zu und sie glitt rasch in
das Reich der Träume hinüber.
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Auf Zehnspitzen schlich ich mich in das Arbeitszimmer. Ich hatte
mir schon ein gutes Buch und meine Lieblings-CD rausgesucht und
ein paar Duftkerzen aufgestellt. Mit dem Roman in der Hand ließ
ich mich in den weichen Sessel plumpsen und Schlug das Buch auf
der Seite auf, die mit einem Lesezeichen markiert war. Ich wollte
unbedingt wissen, ob der Zauberer Raistlin wirklich die Dunkle
Königin, die Göttin des Bösen, herausfordern würde.
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Ich war schon in meinen Roman versunken, als die Türklingel
mich wieder in die Realität zurück riss. Ich fragte
mich, wer denn da klingeln konnte. Dominik und Tristan hatten
einen Schlüssel und Besuch hatte sich eigentlich nicht angekündigt.
Ich war nicht wenig erstaunt, als ich die Tür öffnete
und in das lachende Gesicht meiner Schwester blickte. „Joanna,
was machst du den hier? Du hättest doch was sagen können,
dann hätte dich jemand vom Flughafen abgeholt“. Ich
bat meine Schwester ins Haus und schloss sie in den Arm. „Keine
Sorge, Xana“, erwiderte sie, „das mit dem Flughafen
war kein Problem. Mein Privatjet ist auf dem alten Flugplatz hier
in Sierra Simlone Stadt gelandet. Ich musste also nicht weit fahren“.
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Privatjet, alles klar. Ich wollte schon anfangen zu lachen, als
ich bemerkte, dass meine Schwester keineswegs einen Scherz gemacht
hatte. „Privatjet?!“, fragte ich deshalb ungläubig.
„Wo um Gottes Willen hast du denn einen Privatjet her? Bei
deiner Arbeit wirst du doch wohl kaum so viel Geld verdienen,
ganz abgesehen davon, dass du gar keine Privatjet brauchst“.
Joanna arbeitete bei der SimAir. Sie hatte dort als Flugbegleiterin
angefangen, inzwischen kümmerte sie sich aber hauptsächlich
um die Logistik im internationalen Flughafen von SimCity. Trotzdem
war es undenkbar, dass ihr Gehalt einen Privatjet erlauben würde.
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„Xana, setz dich bitte“, forderte sie mich auf. In
meinem Magen breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Ich wusste,
dass gleich eine Bombe platzen würde. Ich wollt es bloß
noch nicht wahr haben. Wir gingen also hinüber zur Sitzgruppe
im Esszimmer. Ich nahm Platz, so wie sie es gewollt hatte und
schaute sie erwartungsvoll an. „Ich arbeite nicht für
die SimAir, Xana. Ich kümmere mich weder um die Logistik
am Flughafen, noch war ich jemals Flugbegleiterin.“ „Aber
du bist doch ständig geflogen“, protestierte ich. „Wie
kann das sein?“. Meine Verwirrung stand mir ins Gesicht
geschrieben. Es gab doch so viel Fotos von ihr in der Uniform.
Ich selbst bin schon mit meiner Schwester geflogen!
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„Dieser ganze Job ist nur eine Tarnung, Xana. Ja, es stimmt,
ich war Flugbegleiterin. Aber das war nie meine eigentlich Aufgabe.“
„Was dann?“, flüsterte ich obwohl ich schon jetzt
Angst vor der Antwort hatte. „Ich arbeite für eine
Organisation, Xana. Es ist eine Organisation, die aus dem Untergrund
arbeitet. Eine Organisation, die für den Untergrund arbeitet.
Lass es mich so ausdrücken, Xana: Wenn jemand etwas will
und bereit ist, dafür zu bezahlen, dann holen wir es ihm.
Und manchmal wollen wir selber etwas haben, was jemand anderes
nicht bereit ist heraus zu geben. In solch einem Fall holen wir
es uns auch.“
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„Du bist eine Diebin? Eine Verbrecherin?“, keuchte
ich. Es war so unglaublich, dass ich es nicht fassen konnte. Meine
eigene Schwester war eine Kriminelle! „So könnte man
es auffassen, Xana. Aber ich erwarte nicht, dass du es verstehst“.
„Warum erzählst du es mir dann? Gott, Jojo, warum konntest
du nicht einfach schweigen und alles beim Alten belassen?“
„Weil ich deine Hilfe brauche, Xana. Deshalb!“
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Meine Hilfe? Meine Schwester erzählte mir gerade, dass sie
eine Verbrecherin war und erwartete auch noch Hilfe von mir. Ich
konnte nicht mehr länger sitzen bleiben. Wenn sie nicht meine
Schwester wäre, meine Zwillingsschwester, dann hätte
ich umgehend die Polizei gerufen. Ich schüttelte entschieden
denn Kopf. Ich würde ihr ganz sicher nicht helfen. „Ich
versteh, dass es ein Schock für dich sein muss, Xana. Aber
du musst mir helfen. Ich verlange es von dir und ein Nein werde
ich nicht gelten lassen“.
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Langsam drehte ich mich um und sah sie ungläubig an. War
diese Frau wirklich meine Schwester? Ich erkannte nichts von dem
lebenslustigen, fröhlichen Mädchen, mit dem ich aufgewachsen
war. Ihr Blick war so eindringlich, dass mir ein kalter Schauer
den Rücken herunter lief. „Diese Organisation, Xana,
das ist nicht irgendein belangloser Verein. Es ist ein Familienbetrieb.
Und du gehörst auch zu dieser Familie, Xana. Du bist eine
Brodlowska und als solche stehst du in deiner Pflicht. Unsere
Großmutter, Justyna Brodlowska, hat diese Familienorganisation
gegründet. Und Dad hat sie fortgeführt, genauso, wie
ich es jetzt tue“.
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Mir wurde schwindelig. Ich musste träumen, eine andere Erklärung
gab es nicht. „Aber Dad hat doch für ein Transportunternehmen
gearbeitet“, flüsterte ich heiser. „Und unsere
Großmutter Justyna ist seit Jahren verschwunden. Das ist
doch alles nicht möglich.“ „Es ist möglich,
Xana. Hast du dich nie gewundert, warum Dad nachts ständig
fort war? Warum sollte er für eine Transportfirma ausgerechnet
mitten in der Nacht arbeiten. Nein, Xana, Dad war ein geschickter
Schmuggler und ein raffinierter Einbrecher, der sich einen Namen
in der Unterwelt von SimCity gemacht hat. Und unsere Großmutter
Justyna, Dads Mutter, hat die ganze Zeit über ihn gewacht
und ihn in die richtige Richtung gelenkt. Ich kann dir ihre Tagebücher
zeigen, Xana. Sie hat alles aufgeschrieben“.
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Ich wusste nicht warum, aber ich glaubte ihr. Auch wenn mir Joanna
in diesem Moment wie eine Fremde erschien, so war sie meine Zwillingsschwester.
Ich hätte es gespürt, wenn sie mich jetzt angelogen
hätte. Trotzdem spürte ich, wie meien Beine nachzugeben
drohten und setzte mich rasch wieder hin. „Ist Dad wirklich
tot?“, schoss es aus mir heraus. Wenn alles, was ich über
meine Familie zu wissen glaubte, eine Lüge war, dann war
vielleicht Dad auch noch am Leben. „Nein, Xana, Dad ist
tot“. Ich sah den Schmerz in Joannas Augen und wusste, dass
sie nicht log. Sie hatte Dad immer bewundert und geliebt, etwas,
was ich nie verstanden hatte. „“Er hat Paps Tod nie
verkraftet. Und die Organisation hatte ihn überfordert. Nein,
er ist tot. Genauso, wie unsere Großeltern Justyna und Don
Carlos“.
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„Dads Eltern sind tot?“. Ich war entsetzt. Großmutter
Justyna hatte ich nie wirklich kennen gelernt, aber abuelo
Carlos hatte ich in mein Herz geschlossen. Mit Tränen
erinnerte ich mich daran, wie er meine Schwester und mich zu unserem
18.
Geburtstag mit wunderschönen
Kleidern überrascht hatte. Ich bekam ein Rotes und Joanna
ein Weißes, beide im kubanischen Stil, dem Heimatland von
abuelo
Carlos. „Wie?“, hauchte ich. Joanna fiel
es schwer weiter zu sprechen. Also war doch noch die Schwester
in ihr, die ich einmal gekannt hatte.
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„ Abuelo
Carlos hat unsere Großmutter erschossen. Kurz
danach hat er sich eine Kugel in den Kopf gejagt“. Ich sah
meine Schwester entsetzt an. „Großmutter Justyna hatte
zuvor versucht, Dad zu töten….dabei hatte sie aber
mich statt ihm getroffen“. Noch während sie sprach
hob Joanna ihr Oberteil und enthüllte mir eine Narbe an der
Seite ihres Bauches.
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„Das war an meinem Hochzeitstag,
Xana. Kannst du dir vorstellen, was damals in mir vorging? Ich
stand da in meinem weißen Kleid, mit einem Blutfleck, der
immer größer wurde. Und vor mir lagen meine erschossenen
Großeltern. Dad war nicht mehr in der Lage klar zu denken
und Paps war vom Krebs schon zu geschwächt. Tante Ewa weinte
bloß hysterisch. Also musste ich handeln. Ich musste die
Leichen beseitigen und die Trauung durchziehen, als ob nichts
gewesen wäre. An diesem Tag habe ich mich endgültig
der Organisation angeschlossen, mit Herz und Seele. An diesem
Tag erkannte ich zum ersten Mal, welche Verantwortung auf meinen
Schultern lastete“. Ich war wie geschockt. Es war einfach
zu viel für mich. Zu viele Informationen, die auf mich niederprasselten.
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„Hör auf, Jojo! Hör auf!“ Ich sprang vom
Sessel auf und hielt mir die Ohren zu. Es war alles zu schrecklich.
Doch sie hörte nicht auf. „Du, Xana, unser Bruder Orion
und ich, wir sind jetzt für die Organisation verantwortlich.
Wir müssen dafür sorgen, dass sie stark und auf Kurs
bleibt, dass sie weiterhin so geführt wird, wie unsere Großmutter,
Donna Justyna, es gewollt hat“. „Nein, Jojo! Nein!
Ich will nichts damit zu tun haben. Ich will nichts von dieser
Organisation wissen“.
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