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Ich sah noch einmal nach Lottchen und zog mich dann ebenfalls in mein Schlafzimmer zurück. Zum ersten Mal war ich froh darüber, dass Francesco und ich uns kein Zimmer teilten. Doch obwohl ich sehr müde war, konnte ich nicht einschlafen. Rastlos wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Und immer wenn ich meine Augen schloss, sah ich Francescos wütendes Gesicht. Dieses Bild würde ich nie wieder los werden. Ich war kurz davor, vor Verzweiflung erneut in Tränen auszubrechen, als es leise an meiner Tür klopft. „Klaudia, darf ich rein kommen?“, hörte ich Francesco fragen. Und im Gegensatz zu vor wenigen Stunden klang seine Stimme jetzt wieder ganz ruhig. Ich war dennoch kurz versucht, ich ohne Antwort vor der Tür stehen zu lassen. Aber schließlich bat ich ihn herein. |
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Allerdings blieb ich wie erstarrt auf dem Bett liegen und wagte nicht einmal in seine Richtung zu blicken, als er das Zimmer betrat. Francesco seinerseits blieb nach wenigen Schritten stehen, halb verborgen hinter der Kommode. „Klaudia, es…es tut mir leid, dass ich vorhin so laut geworden bin.“ Mein Herz begann bei diesen Worten zu rasen und meine Hände krallten sich in der Bettdecke fest. Aber ich blickte nicht zu ihm auf. Francesco sprach dennoch weiter. „Ich war wütend…auf die Situation, nicht auf dich. Und auch wenn ich meinte, was ich gesagt habe, so hätte ich es doch anders formulieren müssen. Ich wollte dir keine Angst machen.“ Noch immer sah ich ihn nicht an. Aber ich gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass ich ihn gehört hatte. Damit musste Francesco sich vorerst zufrieden geben. |
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Wir schliefen beide schlecht in dieser Nacht. Ich wusste es von mir ganz genau und konnte es am nächsten Morgen eindeutig an Francescos zerknirschtem Gesicht ablesen. Als sich unsere Blicke beim Frühstück trafen, konnte ich so etwas wie ein schlechtes Gewissen in seinem Blick ablesen. Aber wir sprachen nicht darüber. Das war nicht unsere Art. Und als er das Haus verließ, um ins Rathaus zu fahren, wusste ich, dass wir das Thema nie wieder ansprechen würden. |
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In den Wochen zuvor hatte ich das Gefühl gehabt, dass Francesco und ich endlich begannen, einen Zugang zueinander zu finden. Doch unser Streit hatte die Tür wieder zufallen lassen. Ich hoffte, dass Lottchen davon nichts mitbekommen würde. Und darum kümmerte ich mich besonders intensiv um sie. Langsam begann sie zu sprechen. Das Wort „Mama“ war ihr schon mehrmals über die Lippen gekommen. Und inzwischen war ich mir auch sicher, dass sie damit ganz eindeutig mich meinte. |
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Das Sprechen würde noch eine Weile brauchen. Dafür klappte es mit dem Laufen aber schon ganz gut. Zumindest kurze Strecken konnte Lottchen gegen Ende des Sommers bereits ohne Hilfe zurücklegen. Und im weichen Gras hinter dem Haus musste ich mir auch keine Sorgen machen, dass sie sich verletzte, wenn sie doch mal auf die vier Buchstaben fiel. |
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„Das hast du toll gemacht, Lottchen“, lobte ich sie, als sie fast fünf Meter ohne zu stolpern auf mich zugegangen war und warf sie in die Luft, was meiner kleinen Maus ein zufriedenes Glucksen entlockte. Sie war einfach mein Sonnenschein. Ein Blick in ihr lachendes Gesicht und ich konnte all meine anderen Probleme vergessen. |
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Zumindest zeitweise, denn allzu schnell holten die Probleme mich wieder ein. Ich hatte meinen Willen bekommen und im Herbst wurde meine neue Ausstellung in der Galerie in Rodaklippa eröffnet. Und sie fand großen Anklang. Die Galerie war so gut besucht wie selten zuvor und meine Bilder fanden rasch ihre Käufer. Und dennoch blieb ein schaler Nachgeschmack. Die Worte meiner Schwiegermutter gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Mochten die Menschen meine Bilder wirklich oder nur deshalb, weil sie von Lady Hartfels gemalt worden waren? Ich würde mir dessen nie sicher sein können und ich merkte, wie mir diese Ungewissheit den Spaß an der Malerei nahm. |
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Das einzige, dessen ich mir sicher war, war die Liebe meiner Tochter. Und jetzt im Herbst lief sie wie wild im Garten umher, versuchte, die von den Bäumen herabfallenden Blätter zu fangen oder die Eichhörnchen zu streicheln, die sich zahlreich in unserem Garten blicken ließen. Zum Glück war das Grundstück so groß und an der Vorderseite mit einem Zaun versehen, dass ich mir keine Sorgen machen musste, dass sie unbemerkt auf die Straße lief. So konnte ich sie auch für einige Augenblicke unbeobachtet lassen und mich ganz dem Schnitzen der Halloweenlaternen widmen. |
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Tammy kam oft mit Thassilo vorbei. Mein kleiner Neffe konnte zwar noch nicht so flink laufen wie Lottchen, aber die beiden spielten gerne miteinander. Lottchen hatte gleich die Rolle der großen Schwester übernommen und versuchte ihrem Cousin wo es ging zu helfen. Sie drückte ihm einen dicken Schmatzer auf den Mund oder holte ihm die Spielsachen aus der Kiste, an die er noch nicht selbst heran kam. Nun ja, manchmal nahm sie ihm die Spielsachen auch weg oder haute ihn damit, aber so waren Kinder nun einmal. |
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Heute spielten sie jedenfalls ganz friedlich miteinander. Und Tammy und ich konnten auf der Bank Platz nehmen, den beiden beim Spielen zusehen und uns unterhalten. Irgendwie kamen wir auf das Thema Heiraten, da Magda vor kurzem angedeutet hatte, dass Holden ihr möglicherweise bald einen Antrag machen wollte. „Und wie sieht es bei dir und Sky aus, Tammy?“ fragte ich die Freundin meines Bruders. „Habt ihr auch schon über das Heiraten gesprochen?“ |
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„Wenn ich ehrlich sein soll, Sky hat mir vor kurzem einen Antrag gemacht. Ganz romantisch mit Kerzenschein, auf die Knie gehen und einem wundervollen Ring“, offenbarte Tammy und überraschte mich damit vollständig. „Aber warum weiß ich dann davon noch nichts!“, entfuhr es mir. „Nun, weil ich seinen Antrag abgelehnt habe“, gestand Tammy und brachte mich damit noch mehr aus der Fassung, als mit der ersten Neuigkeit. |
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„Aber warum? Liebst du ihn denn nicht? Ihr habt doch sogar ein Kind zusammen?“, überhäufte ich sie mit Fragen. „Oh, Klaudia, ich liebe Sky aufrichtig. Und er liebt mich auch, daran habe ich keinen Zweifel. Sonst hätten wir die ersten Monate nach Thassilos Geburt nicht gemeinsam überstanden. Das ist es also nicht. Ich hätte auch gerne ‚Ja‘ gesagt, aber ich wusste, dass es nicht richtig gewesen wäre. Wir sind zu jung zum Heiraten, Klaudia. Wir sind 17 und wir wissen beide nicht, wie unsere Zukunft aussehen wird. Nächsten Sommer machen wir beide unseren Abschluss. Und dann will Sky studieren. Er freut sich schon richtig darauf und spricht immer davon, dass wir dann gemeinsam an die Uni in Simnorsk gehen können. Aber wie stellt er sich das vor? Sollen wir etwa zu dritt dort hin? Er, ich und Thassilo? Ich kann ihn schließlich nicht allein lassen. Ich bin mir sicher, dass Oxana sich bereitwillig um ihn kümmern würde. Aber ich könnte mich nicht von meinem Jungen trenne. Und mit Kind an der Uni würde es weder für mich noch für Sky leicht werden.“ |
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„Und ich muss auch gar nicht an die Uni. Das ist Skys Traum, nicht meiner. Meine Noten sind nicht gerade die besten. Und ich hab auch nicht wirklich Lust, noch weiter drei Jahre zu büffeln. Weißt du, deine Mutter meinte sogar, sie könnte ein gutes Wort beim Obstgroßhändler einlegen, bei dem sie ihre Äpfel verkauft. Ich könnte dann eine Ausbildung zur Großhandelskauffrau machen. Ich könnte in Rodaklippa bleiben, bei meinem Sohn. Und Oxana würde mir weiterhin mit ihm helfen. Und Sky könnte in Ruhe studieren…ohne mich. Klaudia, wir lieben uns, aber ich mache mir keine Illusionen. Er wird für fünf Jahr weg sein. Und selbst wenn wir uns zwischendurch immer sehen, so eine Fernbeziehung kann nicht lange funktionieren. Dafür sind wie einfach zu jung. Er wird an der Uni eine andere kennenlerne. Und wer weiß, vielleicht lerne ja auch ich jemand Neues kennen. Und dann will ich nicht, dass wir an ein Versprechen gebunden sind. Wir sollen zusammen sein, weil wir es beide wollen und nicht, weil wir und dazu verpflichtet fühlen. Ich will ihn mit einer Ehe nicht an mich fesseln.“ |
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Ich war sprachlos. Dieses Mädchen neben mir, gerade einmal 17 Jahre alt, war mir doch an Reife und Weisheit Jahrzehnte voraus. Sie war bereit, Sky ziehen zu lassen, weil sie genau wusste, dass es für sie beide das Beste war. Sofort musste ich an meine eigene Beziehung zu Francesco denken. Hatte ich ihn etwa mit unserer Hochzeit an mich gefesselt? Wollte er auch weg und hatte bloß keine Möglichkeit mehr dazu. Oder war ich diejenige, die an ihn gefesselt war, ohne Aussicht auf Entkommen? Beide Möglichkeiten waren schrecklich und beide trafen sie vermutlich zu. Francesco und ich waren aneinandergefesselt. Wir konnten es uns in unseren Fesseln vielleicht etwas bequemer machen, aber lösen konnten wir sie nicht. |
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Ich überlegte erst, Francesco drauf anzusprechen. Doch was hätte das gebracht? Entweder er hätte es verneint, aber ich wusste, dass in dem Fall immer ein Rest Mistrauen in mit verblieben wäre. Und wenn er mit zugestimmt hätte, dann wäre das noch viel schlimmer. Es war eine Sache zu denken, man sei in Fesseln. Zu wissen, dass es so war, war eine ganz andere Geschichte. Zum Glück passierten aber auch viele schöne Dinge in meinem Leben. Lottchens erstes Halloweenfest gehörte dazu. Sie sah so niedlich in ihrem gelben Hasenkostüm aus und die bunten Laternen zogen sie magisch an. |
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Magda besuchte mich oft und brachte auch Rocky mit. Er und Lottchen spielten dann in ihrem Zimmer. Rocky war noch zu klein um wirklich mit Lottchen zu spielen. Er schien seine Cousine noch gar nicht richtig wahrzunehmen. Aber es war dennoch ein schöner Anblick, sie gemeinsam zu sehen. |
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Als die Tage immer kälter und kälter wurden, musste Lottchen auch mehr Zeit im Haus verbringen. Zu Anfang wollte sie einfach nicht begreifen, warum sie nicht mehr auf dem Rasen herumtollen durfte. Doch dann gab ich ihr meinen Kuschelpanda, der seit meinem Umzug nach Vanderley in einem Karton gelegen hatte. Für Lottchen war es Liebe auf den ersten Blick. Während ich ihr am warmen Kaminfeuer aus einem Märchenbuch vorlas, spielte sie stundenlang mit dem Panda, umarmte ihn, gab ihm Küsschen und plapperte auf ihn ein. |
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