Kapitel 4
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Ich war sprachlos. Meine Schwester hatte also bereits ein Kind und ich war ohne es zu wissen Tante. „Willst du auf den Arm deiner Tante?“, fragte Kinga ihren Sohn und drückte ihn mir umgehend in die Arme, als dieser nicht protestierte. Er war so klein und süß. Ich war sofort verliebt. Und offenbar gefiel es auch dem kleinen David von mir auf dem Arm gehalten zu werden, denn er lachte vergnügt.

 
 
 

Dann führte Kinga mich in das Innere des Hauses und auch dort wartete schon die nächste Überraschung auf mich. Ein Mann im roten T-Shirt stand im Wohnzimmer und reichte mir die Hand. „Und das ist mein Mann, Olek“, stellte meine Schwester mir den Unbekannten vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ich war überwältigt. Kinga hatte sich also in all den Jahren eine richtige Familie aufgebaut. Sie war verheiratet und hatte einen Sohn. Ich hatte in den vergangenen 13 Jahren oft an Kinga gedacht und mich gefragt, wie ihr Leben wohl aussehen mochte, aber ein Mann und Kinder kamen darin nie vor. Und das überraschendste war, dass meine Schwester mit ihrer kleinen Familie richtig glücklich wirkte.

 
 
Dixie Chicks - Not ready to make nice
   
 

Mein Schwager Olek nahm uns David ab, damit Kinga und ich uns in Ruhe unterhalten konnten. Wir setzten uns auf das Sofa und meine Schwester begann das Gespräch mit einer Entschuldigung. „Es tut mir so leid, wie ich dich vor meinem Weggang behandelt habe. Ich war blind vor Wut…und die Drogen haben die Sache auch nicht besser gemacht. Du bist meine kleine Schwester und ich hätte dich beschützen müssen, statt dich zu verängstigen und dich zu terrorisieren. Kannst du mir verzeihen, Klaudia?“ Natürlich konnte ich das. Alle Zweifel, die mich heute Morgen noch geplagt hatten, waren mit einem Mal wie weggeblasen. Kinga war meine Schwester und ich erkannte mit einem Blick, dass sie sich geändert hatte.

 
     
 

Meine Schwester war sehr erleichtert über meine Antwort. Und ich war neugierig geworden. Ich wollte wissen, wie es ihr in den letzten 13 Jahren ergangen war. „Die ersten Wochen und Monate, nachdem ich von Zuhause fort musste, waren wirklich hart. Der Entzug…und erst die Zeit danach.“ Der Blick meiner Schwester schweifte für einen Moment in weite Ferne, doch sie fing sich schnell wieder. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich Mutter verflucht habe, dass sie mich in die Obhut von Tante Joanna gegeben hat. Aber im Rückblick kann ich sagen, dass es die richtige Entscheidung war. Ich habe selbst Angst davor mir vorzustellen was aus mir geworden wäre, wenn keiner eingegriffen hätte. Und vermutlich hätte ich dann auch Olek nie kennengelernt. Er hat in der Einrichtung gearbeitet, in die ich gebracht wurde. Und je näher ich ihn kennenlernte, desto mehr verliebte ich mich in ihn.“ Bei den letzten Worten blickte sie verliebt zu ihren Mann, der mit David auf dem Boden spielte.

 
   
 

Dann erhob sie sich vom Sofa und holte ein Fotoalbum aus dem Bücherregal. „Vor drei Jahren haben wir geheiratet.“ Sie öffnete die Seite mit den Hochzeitsfotos. „Es war nur eine kleine Feier, bei uns im Garten. Olek und ich sind schon seit 11 Jahren ein Paar. Und in Twinbrook haben mir uns ein richtiges Heim aufgebaut. Wir leben nicht im Luxus und Twinbrook ist ein verschlafenes, sumpfiges Nest, aber ich bin glücklich dort. Wir sind dort hingezogen, als Olek einen Job bei der Lama-GmbH angeboten bekommen hat. Dafür musste ich zwar meinen Job als Flugbegleiterin aufgeben…schau nicht so überrascht, Klaudia, ich hatte Tante Joanna als Vorbild, als hab ich ihr nachgeeifert…aber in Twinbrook habe ich dann bei der Feuerwehr angefangen.“ Jetzt machte ich noch größere Augen, als bei der Verkündung, dass meine rebellische Schwester eine freundlich lächelnde Stewardess geworden war. „Der neue Job erfüllt mich. Ich kann mich körperlich austoben und habe das Gefühl, gebraucht zu werden. Als Olek mir an unserem Jahrestag vor zwei Jahren einen Antrag machte, musste ich nicht lange überlegen ob ich seien Frau werden wollte.“ Kinga strahle, während sie mir die Geschichte erzählte.

 
   
 

„Und bald darauf wurde David geboren. Er war nicht geplant. Wie du dir vielleicht vorstellen kannst, wollte ich nie Mutter werden. Ich wusste, dass ich eine furchtbare Mutter werden würde. Und nach all den schlechten Erfahrungen mit unserer eigenen Mutter, wollte ich das einem kleinen, unschuldigen Kind nicht antun. Und ich wollte in meinem Beruf voran kommen. Ein Kind passte nicht in meine Lebensplanung. Als ich merkte, dass ich schwanger war, musste ich lange überlegen, ob ich das Kind behalten wollte. Olek hätte mich bei jeder Entscheidung unterstützt. Und die Zweifel blieben, bis…bis ich Davids ersten Tritt spürte. Und als ich ihn in den Armen hielt, wollte ich mich nie wieder von ihm trennen. David ist mein ein und alles.“

 
     
 

„Seine Geburt hat mir deutlich gemacht, wie viel einem die Familie bedeuten kann. Ich hab meine verloren. Aber ich möchte nicht, dass es meinem Sohn auch so ergeht. Deshalb bin ich jetzt zu dir gekommen. Olek hat keine Familie mehr. Seine Eltern sind beide schon vor langer Zeit gestorben und er hatte keine Geschwister. Aber ich habe eine Schwester. Dich. Und mein Sohn soll eine Tante haben.“

 
     
 

„David könnte aber auch noch einen Onkel und zwei liebende Großeltern haben“, warf ich vorsichtig ein. Ich war immer noch der Meinung, dass Kinga auch zu unseren Eltern gehen sollte. Es gab sogar noch viele weiter Onkel und Tanten für David, wenn Kinga auf ihre vier Halbgeschwister Miranda, Hans, Desdemona und Elvira zugehen würde. Doch diesen Gedanken behielt ich erst einmal für mich. Ich biss schon mit dem ersten Vorschlag auf Granit. „Nein Klaudia. Dazu bin ich nicht bereit. Dein Bruder Sky ist nicht mein Bruder. Er ist ein Fremder für mich und ich bin eine Fremde für ihn. Und Dominik…er ist einfach nicht mein Vater. Er hat mich aufgezogen und dennoch. Ich fühle nichts für ihn. Es tut mir sehr leid, dir das sagen zu müssen aber es ist so.“ Dieses Geständnis meiner Schwester machte mich sehr traurig, insbesondere wenn ich daran zurückdachte, wie sie Papa als Kind vergöttert hatte.

 
   
 

„Und Mutter? Nun, man sagt, die Zeit würde alle Wunden heilen, aber das stimmt nicht. Manche Wunden heilen einfach nicht. Sie hat mir den einen Vater genommen und mir den anderen vorenthalten. Ich kann ihr nicht verzeihen. Ich kann es einfach nicht. Ich bin inzwischen so weit, dass ich sie nicht mehr verabscheu. Und manchmal denke ich sogar an die schönen Momente zurück, die wir gemeinsam hatten, so selten diese Momente auch waren. Mutter war einfach immer kalt mir gegenüber. Ich verstehe heute besser, wieso sie so war, aber verzeihen kann ich ihr dennoch nicht. Und daran wirst du auch nichts ändern können, kleine Schwester.“

 
     
 

Ich sah ein, dass ich meine Schwester nicht umstimmen würde können…zumindest jetzt noch nicht. Vielleicht war Zeit doch in der Lage, alle Wunden zu heilen. Und wenn Kinga und ich wieder ein gutes Verhältnis zueinander aufbauen würden, dann würde vielleicht auch in ihr der Wunsch aufkeimen, sich unseren Eltern wieder zu nähern. In der Zwischenzeit genoss ich die gemeinsame Zeit mit meine Schwester und meinem Neffen David. Kinga und Olek würden noch heute Abend nach Twinbrook zurückkehren. Aber wir schworen uns, den Kontakt nicht mehr abbrechen zu lassen.

 
 

 

 

 
   
   

Kinga bat mich unseren Eltern zumindest so lange nichts über ihr Auftauchen zu erzählen, bis Olek und sie wieder zurück in Twinbrook wären. Zum Glück bat sie mich nicht darum, den beiden dauerhaft verschweigen zu müssen, dass ihre Tochter sich bei mir gemeldet hatte. Einen Tag nach Kingas Abreise besuchte ich Mama. Ich hätte mir gewünscht, dass auch Papa da wäre, aber er musste arbeitet und ich konnte das Geheimnis nicht länger für mich behalten. Wir setzten uns an den Esstisch im Wohnzimmer und ich erzählte ihr geradeheraus, was vorgefallen war.

 
   

„Kinga war bei mir, hier in Rodaklippa“, verkündete ich. „Sie hat mich besucht. Und sie war nicht allein. Sie hat geheiratet, Mama, und sie hat einen kleinen Sohn.“ Der Gesichtsausdruck meiner Mutter wechselte von belustigtem Erstaunen, über Verständnislosigkeit zu einer Mine der Verzweiflung. „Kinga hat dich besuch? Sie war hier in der Stadt? Und sie ist Mutter geworden“, fragte sie immer und immer wieder. „Wo ist sie jetzt? Warum hast du uns denn nichts gesagt, Spätzchen? Mein Mädchen war hier. Nach 13 Jahren war ich ihr so nah wie nie zuvor. Du hättest uns Bescheid geben müssen!“

 
   
 

„Das wollte ich doch, Mama“, versicherte ich ihr und versuchte das schlechte Gewissen zu unterdrücken, welches sich beim Klang der vorwurfsvollen Stimme meiner Mutter in mir ausbreitete. „Aber Kinga…sie wollte euch nicht sehen. Ich hab versucht sie zu überzeugen, aber sie ließ sich einfach nicht umstimmen.“ Die Hände meiner Mutter auf dem Tisch begannen bei diesen Worten zu zittern und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Hastig stand sie auf und versuchte die Tränen vor mir zu verbergen. Aber dafür war es zu spät.

 
     
 

Ich folgte Mama, die schluchzend mit dem Rücken zu mir in der Mitte des Wohnzimmers stehen geblieben war. „Sie war so ein süßes Baby“, sprach sie mehr zu sich selbst, als zu mir. „Als ich sie das erste Mal in den Armen hielt, war sie so wunderschön. Selbst die Krankenschwestern meinten, sie hätten noch nie so ein perfektes Baby gesehen. Doch ich, ich hielt sie in den Händen, sah sie an und…ich empfand gar nichts. Ich hätte sie lieben müssen, sie war doch mein kleines hübsches Mädchen. Aber ich konnte es nicht. Ich konnte deine Schwester einfach nicht so lieben, wie sie es verdient hatte. Ich blickte sie an und sah in ihr den Fehler, den ich begangen hatte.“ Damit sprach Mama auf ihre Affäre mit einem verheirateten Mann an, aus der Kinga hervorgegangen war. „Ja, ich verdiene es, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben will. Aber es tut dennoch so weh, Klaudia. Und ich habe ein Enkelkind, das ich vermutlich nie kennenlernen werde. Das tut so weh, Spätzchen, so unheimlich weh.“

 
   
   

Ich ging auf meine Mutter zu und schlang meine Arme kräftig um sie.  „Du wirst David ganz sicher kennenlernen. Dafür werde ich sorgen, ich verspreche es dir, Mama. Und es stimmt nicht, dass du Kinga nie geliebt hast. Keine Mutter, die ihr Kind nicht liebt, würde sich solche Vorwürfe machen. Und sie würde nicht so trauern, wie du es tust. Kinga hat mir versichert, dass es die richtige Entscheidung war, sie in die Obhut von Tante Joanna zu geben. Sie macht dir deswegen keine Vorwürfe. Und ich hab in ihren Augen gesehen, dass sie dir verzeihen möchte, dass du sie wegen ihres Vaters belogen hast. Sie bemüht sich, aber sie braucht noch Zeit. Aber dass sie überhaupt nach Rodaklippa gekommen ist, ist ein erster Schritt. Glaub mir, Mama, es wird sich alles zum Guten wenden. Versprochen.“

   
 

 

 

Teil 3

 
 
   

Ich wollte gerne zwischen meinen Eltern und Kinga vermitteln, aber ich hatte Angst, King zu sehr unter Druck zu setzen und sie so wieder ganz zu verschrecken. Daher unternahm ich vorerst keine Versuche, die drei zusammenzuführen. Dafür trieb mich in den nächsten Wochen Magda immer wieder dazu an, Sport zu treiben. Und ich musste zugeben, dass es durchaus seinen Reiz hatte, durch die herbstliche Landschaft zu joggen. Obwohl ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr im Norden der SimNation lebte, faszinierte mich der Wechsel der Jahreszeiten immer noch, den ich aus meiner Wüstenheimat, der Sierra Simlone, nicht kannte.

 
     

Das Joggen bereitete mir inzwischen zum Glück keine Schwierigkeiten mehr. Was nicht heißen sollte, dass es mir plötzlich Spaß gemacht hätte. Es war nur nicht mehr ganz so anstrengend wie zu Beginn. Zum Glück hatte Magda aber auch die Idee zu der ein oder anderen sportlichen Aktivität, die wirklich Spaß machte. Trampolinspringen zum Beispiel. Aber Magda wäre nicht Magda, wenn sie einem sogar das madig gemacht hätte. „Ich habe gesagt, du sollst elegant springen, Claude! Elegant! Nicht wie ein Elefant!“ Wäre es ein Verbrechen, wenn ich jetzt einfach auf sie drauf spräng und sie unter mir begrübe?

   
   
   

Irgendwann meinte Magda dann, dass wir mit ein wenig durch die Gegend laufen und Rumgehoppse bei mir nicht mehr weiter kämen. Da müssten härtere Mittel ran. Als verbrachten wir von nun an unsere freien Stunden im Fitnessstudio. Alleine hätte ich mich in so eine Muckibude vermutlich nie hineingewagt. Und im Inneren stellte ich dann fest, dass es gar nicht sooo schlimm war. Zum Glück trainierten hier nicht nur muskelbepackte Adonisse, sondern ganz normale Menschen, die wie ich ein paar Kilos zu viel auf den Rippen hatten.

 
   

Auch wenn Magda nach wie vor mit Seitenhieben bezüglich meines Aussehens und Auftretens nicht hinterm Berg hielt, so unterstützte sie mich doch tatkräftig bei meinem Versuch abzunehmen, indem sie wirklich immer mitmachte. Nun gut, fast immer. „Höher die Beine schwingen, Claude“, kommandierte sie mich herum, als ich auf dem Trainingsgerät saß und etwas für meine Beinmuskulatur tat. „Leicht wie ein Vögelchen, Claude, leicht wie ein Vögelchen.“ Ich würde ihr gleich Vögelchen geben! Ich schaffte es ja kaum gleichzeitig meine Beine zu heben und dabei nicht das Atmen zu vergessen. Und was war mit Madame? Die wurde doch tatsächlich von den anderen Fitnessstudio-Besuchern dafür bewundert, was für eine großartige Trainerin sie war. Und mich beachtete keiner. Die Welt konnte echt unfair sein!

 


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kor. 03.08.2014