Kapitel 5
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„Pummelchen, du weißt doch gar nicht, was hier für Leute wohnen, so mitten im Sumpf“, protestierte meine Mutter. Doch da hatte ich die Klingel schon längst gedrückt. Einen Moment fürchtete ich schon, es könnte niemand daheim sein. Doch dann hörte ich Schritte und die Tür wurde geöffnet. „Hallo Ki“, begrüßte ich verlegen lächeln meine Schwester, die mich perplex anstarrte.

 
 
 

„Klaudi? Was machst du den hier“, fragte sie erstaunt, aber nicht unerfreut. „Wie hast du meine Adresse herausgefunden? Ich hätte wissen müssen, dass meine kleine Schwester schon Mittel und Wege finden würde um mich aufzuspüren. Das schein uns wohl in den Genen zu liegen.“ Ich wusste zwar nicht, worauf sie damit anspielte, aber viel Zeit zu überlegen blieb mir nicht. Denn plötzlich verfinsterte sich ihr Gesicht. „Nein!“, knurrte sie. „Du hast nicht wirklich SIE hergeführt.“

 
     
 

Zornig funkelte sie unsere Mutter an. Als ich mich ebenfalls zu ihr umdrehte, erschrak ich beinah. Alle Farbe war aus Mamas Gesicht gewichen. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie dort, unfähig sich zu rühren oder etwas zu sagen. 13 lange Jahre hatte sie ihre Tochter nicht zu Gesicht bekommen. Und nun stand sie auf einmal vor ihr.

 
     
 

Unter anderen Umständen hätte es ein Moment des Glücks werden können. Doch die Reaktion meiner Schwester machte alle Hoffnungen, die ich mir im Vorfeld gemacht hatte, mit einem Schlag zunichte. „Dazu hattest du kein Recht“, feuchte sie mich an und stieß mich unsanft zur Seite. Dann wandte sie sich an Mama. „Verschwinde von hier, Mutter! Ich hab dir gesagt, dass ich dich niemals wieder sehen will! Was ist an diesen Worten nicht zu verstehen gewesen. Hau ab! Verschwinde aus meinem Leben und lass dich nie, nie wieder hier blicken! Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!“

 
   
 

Das war mehr, als unsere Mutter ertragen konnte. Ihre Hände begannen so stark zu zittern, dass sie den Schirm nicht länger halten konnte. Sie hatte diese Worte schon einmal von Kinga zu hören bekommen. Und vor 13 Jahren hatten sie ihr bereits das Herz gebrochen. Man hätte meinen können, dass es beim zweiten Mal leichter wurde. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Sie konnte es nicht ertragen, nicht noch einmal. Schluchzend drehte sie sich um und lief davon.

 
   
 

Und jetzt platze auch mir der Kragen. „Wusste das wirklich sein, Ki?! Ist es langsam nicht genug?! Herr Gott, wie viele Jahre müssen denn noch vergehen, bis du Mama verzeihen kannst?“ Kinga wollte protestieren, doch ich ließ sie nicht zu Wort kommen. „Ja, Mama hat einen Fehler gemacht. Sie hat dich belogen, aber doch nur, weil sie dein Bestes wollte. Kannst du oder willst du das einfach nicht verstehen? Seit Jahren vergeht kein Tag, an dem sie sich nicht deswegen Vorwürfe machen würde. Aber mehr als entschuldigen kann sie sich nicht, Ki! Sie kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist. Sie kann auch deinen leiblichen Vater nicht wieder lebendig machen. Aber ist es nicht schlimm genug, dass du nie die Chance hattest ihn kennen zu lernen? Musst du deswegen auch Mama von dir weg stoßen? Kinga, werd endlich erwachsen und vergib ihr! Es ist lange genug böses Blut geflossen!“

 
     
 

Doch meine Schwester ließ sich nicht überzeugen. „Du verstehst das einfach nicht, Klaudia. Sie hat mir weiß gemacht, ein anderer Mann wäre mein Vater. Sie hat zugelassen, dass ich einen Mann liebte, der gar nicht mein Vater war und mit einem Schlag hat sie mir jede Verbindung zu ihm genommen. Wie soll man so etwas verzeihen?“ „Du hast dich selbst von Papa abgewendet“, entgegnete ich entschieden. „Er liebt dich heute noch genauso wie vor 20 Jahren. Nur weil du nicht seine Gene trägst, bist du nicht weniger seine Tochter geworden. Es war deine Entscheidung sich von ihm abzuwenden. Mama hatte damit nichts zu tun, also gib ihr nicht die Schuld dafür.“ Ich merkte, wie die Wut in meiner Schwester nachließ. Aber sie war zum Einlenken immer noch nicht bereit.

 
     
 

Ich wagte einen letzten Versuch. „Denk an David, deinen Sohn“, flehte ich sie an. „Soll er ohne seine Großeltern aufwachsen? Wie willst du ihm später erklären, dass er sie nie kennenlernen durfte, weil du nicht über deinen Schatten springen konntest? Wirst du damit leben können? Und wirst du auch damit leben können, dass du deinen Neffen oder deine Nichte niemals wirst kennenlernen dürfen?“ Bei diesen Worten strich ich mir über meinem Bauch, dem man die Wölbung langsam ansehen konnte. Erst begriff Kinga nicht, doch dann weiteten sich ihre Augen. „Bist du etwa…“, fragte sie und ich nickte zur Bestätigung. „Du wirst Tante, Ki. Aber ich meine es ganz ernst wenn ich sage, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben will, wenn du Mama nicht vergeben kannst. Ich will nicht, dass mein Kind Umgang mit einem so verbitterten und hasserfüllten Menschen wie dir hat.“

 
   
 

Ich wartete gar nicht erst Kingas Reaktion ab sondern drehte mich um und ging hinaus in den Regen. Unweit des Hauses entdeckte ich Mama, die immer noch bitterlich weinte. Ich ging auf sie zu und bot ihr unter meinem Schirm Schutz. „Mami, es tut mir leid, dass ich dich hierher gebracht habe. Ich wollte nur helfen. Ich dachte, wenn du und Kinga, wenn ihr euch erst seht, dann könnt ihr einander vergeben. Jetzt erkenne ich, wie naiv ich war und wie sehr dich das verletzt hat. Komm, Mami, lass uns zurück in die Pension gehen und anschließend sofort nach Rodaklippa zurückkehren. Hier hält uns doch nichts mehr.“

 
     
 

Wir waren gerade im Begriff zu gehen, als uns Kingas Stimme aufhielt. „Nein, bitte, geht nicht.“ Überrascht blieben Mama und ich stehen. Kinga war uns nachgelaufen, bleib aber in einem Abstand zu uns stehen. „Klaudi, bleib bitte…und Mutter…du auch.“ Es war zu hören, wie viel Überwindung sie die letzten Worte kosteten.

 
   
   

Zitternd ergriff Mama meine Hand und gemeinsam drehten wir uns um. Kinga kam langsam auf uns zu. Sie konnte sie dennoch nicht überwinden, auch die letzten Meter zu gehen. Betroffen schaute sie zu Boden und zerzauste sich mit der freien Hand das kurze Haar. Mit geschlossenen Augen atmete sie mehrmals tief durch, doch dann begann sie zu sprechen: „Mutter, es…es tut mir leid, was ich dir eben an den Kopf geworfen habe. Ich…ich hasse dich nicht. Es tut einfach nur so weh, dich zu sehen. Ich kann es nicht abstellen und dabei möchte ich es doch. Ich bin es müde, wütend zu sein. Aber ich weiß einfach nicht mehr, wie es sich ohne Wut anfühlt.“

 
   

Ich wusste nicht, ob ich Kinga an Mamas Stelle vergeben hätte. Doch sie musste darüber nicht einmal nachdenken. „Kinga, mein Töchterchen, du musst mir gar nichts erklären. Ich verstehe es doch.“ Dicke Tränen flossen ihre Wangen hinunter. „Ich bin deine Mutter und ich liebe dich bedingungslos. Kein Wort was du sagst, könnte daran jemals etwas ändern.“

 
   
 

Und plötzlich warf Kinga ihren Schirm beiseite und drückte unsere überwältigte Mutter fest an sich. „Mutti, es tut mir alles so leid“, schluchzte Kinga und zitterte am ganzen Körper. Und auch ich war den Tränen nah. Noch nie hatte ich meine Schwester so erlebt. Sie ließ in diesem Moment alle Mauern fallen. Ohne den Mantel aus Zorn und Provokation war da bloß eine zarte, verletzliche Frau. „Schhhh, Töchterchen, es ist ja alles gut“, redete Mama behutsam auf sie ein und ich bewunderte sie für ihre Stärke. „Dir braucht nichts leid zu tun. Ich war dir niemals, niemals böse.“

 
     
 

Die beiden verharrten für eine Weile eng umschlungen, bis Kinga sich wieder von Mama löste. Mit dem Daumen wischte sie sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Der für Kinga so ungewöhnliche emotionale Moment war vorüber, aber der Geist der Vergebung war immer noch zu spüren. „Klaudi, Mutter, kommt doch bitte rein“, bat sie uns. „Hier im Regen holen wir uns ja noch alle den Tod.“

 
 

 

 

 
       
 

Obwohl Kinga sie immer noch Mutter nannte, war die Kälte aus dem Wort verschwunden. Die Erleichterung auf Seiten meiner Mutter war fast greifbar. Und sie folgte nur zu gerne der Einladung, ins Haus zu kommen. Denn hier erwartete sie ihr kleiner Enkel, den sie bislang noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Die Freude über dieses Kennenlernen war auf beiden Seiten nicht zu übersehen.

 
 
   

Doch ich ahnte, dass Mama noch viel mit Kinga zu besprechen hatte. Also nahm ich ihr David ab und gab den beiden die Gelegenheit, sich ungestört zu unterhalten. Ich ging mit meinem Neffen in sein Zimmer und der nahm mich gleich bei der Hand um mich zu seinem Steckkasten zu führen. Es war wundervoll ihm dabei zuzusehen, wie begeistert er die Bauklötze in die dafür vorgesehen Öffnungen steckte. Und wenn es mal nicht ganz so gut klappte, half ich ihm. In diesem Moment konnte ich es kaum abwarten, mit meinem eignen Kind genauso da zu sitzen.

 
     

Das Gespräch zwischen Kinga und Mama verlief nicht einfach. Über die Jahre hatten sich die Probleme aufgetürmt und beiden war klar, dass man nicht einfach so tun konnte, als ob nie etwas vorgefallen wäre. Dafür war zu viel böses Blut geflossen. Man konnte die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Und beide erkannte, dass sie jetzt über alles sprechen musste, sonst würde sich dieses Gelegenheitsfenster schließen und möglicherweise nie wieder öffnen. „Warum musstest du mich anlügen, Mutter?“ Das war die Frage, die Kinga am meisten auf der Seele brannte. Doch es gab keine einfache Antwort darauf. „Kinga, Schatz, ich habe oft darüber nachgedacht. Möglicherweise hätte ich anders handeln können. Ich hätte Albert sagen können, dass ich schwanger von ihm war, mit allen Konsequenzen, die das mit sich gebracht hätte. Aber so oft ich darüber nachdenke, ich komme immer wieder zu dem Schluss, dass es richtig war, ihm nichts zu sagen. Damit habe ich ihn geschützt, seine Familie, aber auch mich und dich. Glaubst du es wäre in einer Kleinstadt wie Sierra Simlone Stadt, wo jeder jeden kennt, einfach für dich geworden als Tochter einer Ehebrecherin? Ich wollte dir das ersparen.“

   
   
   

„Und Schatz, habe ich dir mit Dominik nicht einen guten Ersatzvater gesucht? Er hat dich geliebt und er tut es immer noch. Ganz egal, ob du nun sein leibliches Kind bist, oder nicht. Ich hoffe inständig, dass du auch ihn wirst wieder lieben können. Auf die Gene kommt es doch nicht an. Nein, so zu tun, als ob Dominik dein Vater sei, war die beste Entscheidung gewesen. Und wäre es nach mir gegangen, ihr beiden hättet niemals erfahren müssen, dass ihr nicht Vater und Tochter seid. Ich hätte dieses Geheimnis mit mir ins Grab genommen und ihr beide wärt glücklich gewesen, so wie ihr es wart, bevor alles ans Licht kam. Ich kann verstehen, dass du das anders siehst, Schatz. Ich kann verstehen, dass du dich von mir um zwei Väter betrogen fühlst. Um den einen, den du nie kennenlernen durftest, und um den anderen, den ich dir entrissen habe. Aber ich kann nur beteuern, dass es niemals in meiner Absicht lag, dich zu verletzen. Aber könnte ich die Zeit zurückdrehen, ich würde alles wieder genauso machen.“

 
   

Meine Schwester blickte unsere Mutter eindringlich an. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlaubte sie es sich, die ganze Geschichte durch die Augen meiner Mutter zu betrachten. Oh ja, sie hielt Mamas Entscheidung immer noch für falsch und die über Jahre angeeignete Wut und der Zorn ließen sich nur schwer zurückdrängen. Aber plötzlich verstand Kinga, warum unsere Mutter glaubte so handeln zu müssen, wie sie es tat. Und dieses Verständnis machte es ihr einfacher, zwar nicht zu vergessen, aber doch zu vergeben.

 

 

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kor. 11.01.2015