Kapitel 6
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Seitdem sich Lottchen so gut mit Schamika und Meinolf angefreundet hatte, wurden Thassilos Besuche bei uns seltener. Aber mein Neffe war immer noch ein häufiger Gast in unserem Haus. Lottchen und er nutzten die lauen Sommerabende und spielten viel draußen.

 
 
 

Doch irgendwann wurde es den beiden doch zu kalt im Freien. Und im Inneren des Hauses konnte man auch super toben. Platz genug hatten wir ja. Selbst eine wilde Kissenschlacht war da kein Problem. Und um die lästigen Federn, die sich anschließend in jeder Ecke finden ließen, würde sich zu meinem Glück unser Hausmädchen Janny kümmern.

 
     
 

Die beiden riefen laut durcheinander, schrien und lachten. Sie liefen die Treppe hinauf und wieder hinab und ließen die Türen knallen. Um dem Chaos etwas zu entgehen ging ich an meine Staffelei. Francesco war bei einer Stadtratssitzung, nur deshalb konnten Lottchen und Thassilo überhaupt so laut sein. Mich störte der Lärm nicht weiter. Bis…nun bis ich ein lautes Klirren aus Francescos Arbeitszimmer hörte. Das alleine wäre schon beunruhigend gewesen. Doch die plötzlich einsetzende Stille war es noch viel mehr.

 
     
 

Hastig legte ich Palette und Pinsel beiseite und eilte in das Arbeitszimmer. Die Tür stand einen Spalt weit offen und als ich sie aufstieß, sah ich sofort, was geschehen war. Betroffen starrten Thassilo und Lottchen auf die Überreste einer kostbaren ägyptischen Schale, die sich in hunderten Scherben über den ganzen Boden verteilte.

 
   
 

Ich zog scharf die Luft ein. Francesco würde böse werden. Richtig böse. Er würde sicher nicht laut werden, aber seine schlechte Laune würden wir in den nächsten Tagen alle zu spüren bekommen. Er liebte seine ägyptischen Relikte und hütete sie wie seinen Augapfel. Aus genau dem Grund durfte Lottchen auch nicht in seinem Arbeitszimmer spielen. „Lottchen, was hattet ihr in Papas Büro zu suchen?“, fragte ich daher schärfer, als ich es beabsichtigt hatte. Denn ich ahnte schon, dass Francesco hauptsächlich auf mich wütend sein würde, weil ich nicht gut genug auf die Kinder aufgepasst hatte. „Du weißt doch ganz genau, dass du hier nicht spielen darfst!“ Statt eine Antwort zu geben, starrten Lottchen und Thassilo mich nur verängstigt an.

 
   
 

Doch dann durchbrach Lottchen die Stille und rückte mit der Wahrheit raus. „Das war alles Thassilos Idee, Mama! Ich habe ihm noch gesagt, dass wir hier nicht rein dürfen. Aber er wollte nicht auf mich hören. Er wollte sich unbedingt Papas Sammlung ansehen. Und da habe ich mich überreden lassen. Und als er die Schale aus dem Regal geholt hat, habe ich noch versucht, ihn aufzuhalten. Du machst sie noch kaputt, habe ich gesagt. Und dann ist sie ihm auch schon aus den Händen gefallen!“

 
     
 

„Was?! Das stimmt doch gar nicht!“, protestierte mein Neffe lautstark. „Das war alles Lottas Idee, Tante Klaudia. Sie wollte hier rein. Und sie hat die Schale aus dem Regal geholt. Sie wollte sie auf dem Kopf balancieren lassen. Für sie als Prinzessin wäre das ein Kinderspiel. Und dann ist sie ihr eben doch vom Kopf gefallen. Sie hat die Schale kaputt gemacht, nicht ich!“

 
     
 

Unschlüssig blickte ich zwischen meiner Tochter und meinem Neffen hin und her. Wem sollte ich glauben? Ich kam zu keiner Entscheidung, bis Lottchen auf einmal zu schluchzen begann. „Ich kann nicht glauben, dass du mir alles in die Schuhe schieben willst, Thassilo. Ich dachte, wir wären Freunde! Aber mit so einem gemeinen Kerl wie dir will ich gar nicht mehr befreundet sein.“ Dicke Tränen liefen ihre Wangen hinab. „Aber…“, setzte Thassilo zu einer letzten Verteidigung an, doch dann sah er ein, dass er mit seiner Lüge wohl nicht durchkommen würde, und schwieg.

 
   
 

„Thassilo, ich bin wirklich sehr enttäuscht von dir“, tadelte ich meinen Neffen. „Dass die Schale kaputt gegangen ist, ist zwar nicht schön, aber dass du mich deswegen angelogen hast, ist noch viel schlimmer. Ich werde ein ernstes Wort mit deinen Eltern reden müssen.“ Reumütig sah Thassilo mich an. Er hatte also immerhin eingesehen, dass er sich falsch verhalten hatte. Aber ich wusste ja auch, dass er sonst ein ganz lieber Junge war. Ich hatte noch auf eine Entschuldigung gehofft, doch die blieb er mir schuldig. Nun gut, man sollte auch nicht zu viel auf einmal verlangen. Nicht alle Kinder waren solche Engel, wie mein Lottchen. „Ich möchte jetzt nach Hause“, war stattdessen das einzige, was er hervorbrachte.

 
     
 

Das hielt ich angesichts der Situation auch für das Beste. Lottchen war immer noch ganz aufgelöst und es war sicherlich besser, wenn Thassilo nicht mehr anwesend war, wenn Francesco nach Hause kam. „Gut, dann hol deine Sachen. Ich fahre dich dann nach Hause“, entgegnete ich und geleitete ihn aus dem Arbeitszimmer und die Treppe hinunter. Von Lottchen hatte er sich nicht mehr verabschiedet. Vermutlich schämte er sich noch zu sehr für seine Lüge. Als ich gerade in der Schublade im Schränkchen am Eingang nach meinem Autoschlüssel suchte, drehte er sich doch noch einmal um. Und am Treppenabsatz stand Lottchen, die ihm ungeniert die Zunge herausstreckte.

 
   
   

Ich brachte Thassilo nach Hause und erklärte meinem Bruder Sky kurz, was vorgefallen war. Seltsamerweise äußerte sich mein Neffe gar nicht mehr zu dem Vorfall und verschwand gleich schmollend in seinem Zimmer. Und wie erwartet war Francesco recht aufgebracht über die zerbrochene Schale. Er machte zwar weder Lottchen noch mir einen Vorwurf, aber ich konnte sehen, dass es innerlich in ihm brodelte. Seit diesem Tag schloss er sein Arbeitszimmer immer ab, wenn er das Haus verließ.

 
   

Denn seiner geliebten ägyptischen Sammlung sollte nicht noch einmal etwas zustoßen. Zum Glück handelte es sich bei der zerbrochenen Schale um kein zu wertvolles Stück. Aber auch sich war nicht mehr zu ersetzen. Und ein ähnliches Schicksal sollte keines seiner übrigen Sammlerstücke ereilen.

 

 

 

   
   
   

Eine Gelegenheit dazu hätte sich bald wieder ergeben. Lottchen bat mich, eine Übernachtungsparty für ihre Freunde ausrichten zu dürfen. Da ich sah, dass sie der Streit mit Thassilo immer noch bedrückte, stimmte ich sofort zu. Und am Wochenende kamen dann die Geschwister Meinolf und Annabelle, und ihre beste Freundin Shamika vorbei. Meinen Vorschlag, dass sie doch auch Thassilo einladen könnte, um sich mit ihm zu versöhnen, schlug Lottchen vehement aus. Dafür lud sie aber ihren anderen Cousin Rocky ein. Und der freute sich sehr darüber, endlich mal von seiner großen Cousine beachtet zu werden, die sonst eigentlich nicht viel mit ihm zu tun haben wollte.

 
   
 

Da das Wetter super war, konnten wir eine Rutschbahn im Garten aufstellen. Die Kinder brauchten sie nur zu sehen, da zogen sie auch schon ihre Badesachen an und planschten im kühlen Nass. Und nicht nur die Kinder, auch Francesco hatte sichtlich Spaß daran, auf dem glitschigen Plastik zu schliddern. Er ließ den armen Kindern kaum Gelegenheit, mal selbst zu rutschen. Ich schätzte, dass seine Mutter ihm einen so unstandesgemäßen Spaß früher nicht erlaubt hatte.

 
       
 

Während mein Mann und die Kinder sich vergnügten, bereitete ich das Abendessen vor. Käse-Steaks vom Grill, die würden sicher allen schmecken.

 
 
   

Und für mich ganz ungewöhnlich stiegen diesmal keine dunklen Rauchwolken gen Himmel und lockten wütende Nachbarn an. Es war zwar nicht einfach, die Kinder von der Rutschbahn loszueisen, aber als sie einmal am Tisch saßen, hauten alle ordentlich rein. Wasser machte eben hungrig. Pünktlich zum Essen war auch der letzte Gast eingetroffen, Lottchen Klassenkameradin Lizzy mit den feuerroten Haaren.

 
     

Während die Kinder aßen, konnte ich es mir einfach nicht nehmen lassen, selbst einmal die Rutschbahn zu nutzen. Ich flitzte nach oben, zog meinen Badeanzug an, und dann ging es auch direkt los. Francesco konnte sich vor Lachen gar nicht mehr einbekommen. Und auch ich lachte vergnügt. Hätte ich so eine Rutschbahn früher in der Sierra Simlone gehabt, ich glaube, Mama hatte mich davon nie mehr los bekommen.

   
   
   

Natürlich wollten die Kinder nach dem Essen auch wieder auf die Rutschbahn. Aber man merkte deutlich, dass der Herbst mit großen Schritten näher kam, und die Temperaturen ließen es einfach nicht zu. Daher verteilten sich die Kinder über das Grundstück und suchten sich eine andere Beschäftigung. Rocky fand seine Cousine und ihre Freundin Annabelle schließlich bei den Gemüsebeeten. Beide hatten die Köpfe zusammengesteckt und kicherten. „Was ist denn so lustig?“, wollte er natürlich sogleich wissen.

 
   

Die beiden Mädchen grinsten sich vielsagend an, aber Rocky war noch zu klein und unbedarft, um dies zu bemerken. „Wir haben was gaaanz leckeres gefunden“, antwortete Karlotta. „Erdbeeren?“, fragte Rocky aufgeregt. Die mochte er am liebsten und er wusste genau, dass es vor einigen Wochen noch ganz viele davon bei uns im Garten gegeben hatte. „Nein, viiiiel besser“, antwortete Annabelle. „Zuckerwürmer!“ Bei diesen Worten zeigte Karlotta ihrem Cousin einige sich windende Würmer auf ihrer Handfläche.

 

 

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kor. 03.03.2023