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Als Klaudia aufwachte, war es bereits kurz vor acht. Der Schulbus würde in wenigen Minuten vor dem Haus stehen. Warum hatte sie bloß den Wecker nicht gestellt? Aber wenn sie an die gestrige Nacht dachte, war sie froh, dass sie überhaupt eingeschlafen war. Auch Kinga schien noch zu schlafen. Behutsam klopfte sie an deren Tür und lugte dann in das Zimmer ihrer Schwester. "Ki? Ki", flüstert sie "Wir müssen gleich zur Schule". Sie hörte ein Grummeln aus der Ecke, in der Kingas Bett stand, traute sich aber nicht, das Zimmer ganz zu betreten, aus Angst, dass Alex noch da sein könnte. "Hau ab, Giftzwerg, und lass mich schlafen", gab Kinga schließlich von sich. "Ich hab heute keinen Bock auf Schule".


Klaudia zog sich an, aß schnell einen Joghurt zum Frühstück und lief dann zum Schulbus. Viel zu schnell vergingen die Schulstunden und sie musste wieder nach Hause zurück. Mit den Hausaufgaben in der Hand ging sie mit ungutem Gefühl auf die Veranda zu und war sich nicht sicher, wovor sie mehr Angst hatte, wieder einmal alleine im leeren Haus zu sein oder Kinga und ihre Freunde doch dort vorzufinden.


Doch sie war allein. Kinga muss entweder doch noch zur Schule gegangen sein oder sie hing wieder einmal irgendwo mit ihrer Clique rum und hörte Musik, die ich selbst nur mit dem polnischen Ausdruck "Gezeter und Draht" betitelte. Klaudia war sich recht sicher, dass die zweite Option deutlich wahrscheinlicher zutraf. Schon am Morgen waren einige Wolken vom Meer heran gezogen und jetzt am Nachmittag entließen sie ihre nasse Fracht über den aufgewärmten Böden der Sierra Simlone. Und auch Klaudia wurde nass, aber sie hielt es für besser, in den Regen zu gehen und Goyas Hundehütte zu säubern noch bevor Kinga sie anschreien konnte, warum sie das noch nicht gemacht hat. Durchnässt bis auf die Knochen, waren ihre Hosen voller Schlamm und sie stank wie ein aufgeplatzter Mistkäfer. Aber es war immer noch besser, als sie Kingas Launen auszusetzen.


Und dann machte sie sich daran, das Chaos zu beseitigen, was Kinga mit ihren unheimlichen Freunden am Abend veranstaltet hatten. Die Fliegen tummelten sich bereits auf den liegen gebliebenen Essensresten. "Warum mache ich das eigentlich sauber", fragte Klaudia sich selbst. Doch die Antwort kam ihr sofort. "Weil es sonst niemand machen würde". Sie wusste, dass sie Recht hatte.


Als sie fertig war, ließ sie sich ein Bad einlaufen um sich wieder etwas aufzuwärmen. Wenn es im Frühjahr regnete, dann wurde es selbst in der Sierra Simlone unangenehm kühl. Hinterher fühlte sie sich etwas besser, aber sie war nach wie vor einsam. Ganz entgegen ihrer Art rief sie ihre Schulfreundin Mechthild an, doch leider ging nur ihre Mutter ans Telefon. Also fand sich Klaudia mit ihrer Einsamkeit ab und malte an einem Bild weiter, dass sie schon vor einigen Tagen begonnen hatte. Aber ihre Gedanken kreisten immer wieder nur um einen Punkt: "Hoffentlich kommt Mami bald wieder. Ich möchte nicht mehr alleine hier sein".


Kinga kam erst am Abend heim. "Hey, Giftzwerg, komm essen", rief sie. Klaudia öffnete misstrauisch die Tür zu ihrem Zimmer. Sofort fuhr ihr der Geruch von warmen Nudeln mit Käsesoße in die Nase und überrascht sah sie, wie Kinga zwei Schälchen auf den Tisch stellte. "Nun komm schon her!", forderte Kinga sie noch mal auf und diesmal kam Klaudia ohne weiter zu zögern. Doch kaum hatte sie Kinga erreicht nahm diese sie in den Schwitzkasten und verpasste ihr eine gehörige Kopfnuss. Klaudia begann zu schreien und zu zappeln, doch Kinga lachte nur und zu Klaudias Erstaunen war es tatsächlich ein fröhliches, lustiges Lachen und die Kopfnuss nicht halb so schlimm wie erwartet. "Das war, weil du mich heute Morgen fast geweckt hättest. Und jetzt komm essen".


Und plötzlich war Kinga wie ausgewechselt. Sie sprach mit ihrer kleinen Schwester, sie lachte, sie scherzte. Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fensterscheibe und gelegentlich durchzuckte ein Blitz den schwarzen Nachthimmel. Aber Klaudia fühle sich zum ersten Mal seit Tagen wieder wohl. Klar war Kingas Verwandlung seltsam. Aber sie wollte lieber keine Fragen stellen. Deshalb ignorieret sie einfach die Tatsche, dass Kingas Augen seltsam glasig wirkten und dass an ihren Kleidern ein seltsamer, würziger Geruch haftete, den sie nicht wirklich einzuordnen wusste. Sie wollte einfach nur genießen, dass ihre Schwester wieder nett zu ihr war.


Das ganze ging sogar so weit, dass die beiden sich wirklich ihre Pyjamas anzogen, sich einen riesigen Eisbecher mit Sahne machten und es sich auf der Couch bei einer romantischen Liebeskomödie gemütlich machten. Klaudia kostete jede Sekunde davon aus. Nur die tief sitzende Angst, dass Kingas Laune jede Sekunde wieder umschlagen konnte, trübte den Spaß ein wenig. Aber daran wollte Klaudia nicht denken.

 

 


So schön wie der Abend endete, so schlimm begann der nächste Morgen. Klaudia hatte bis vor kurzem noch so gut wie nie gekocht. Da Kinga aber nicht den Anschein machte, als ob sie ihr Zimmer bald verlassen würde, wollte sie sich ein paar Waffeln aufbacken. Doch leider ging das furchtbar schief. Die Pappschachtel hatte sie oben auf den Herd gelegt und als sie den Backofen heiß machte, geriet sie aus versehen an den Regler für die oberen Gaskocher. Viel zu spät bemerkte sie, dass die Verpackung Feuer fing. Und anstatt sich schnell in Sicherheit zu bringen, als die die Flammen sich rasant ausbreiteten und auf die Topflappen über dem Herd übergriffen, versuchte sie die ohnehin verbrannten Waffeln aus dem Ofen zu retten.


Zum Glück hatten wir den Feuermelder in der Küche, der direkt mit der Feuerwehr verbunden war. Die Feuerwehrfrau war innerhalb von zwei Minuten vor Ort und konnte Schlimmeres verhindern. Die Topflappen würden allerdings auf dem Müll landen müssen.


"Hast du eigentlich nur Brei im Hirn, Giftzwerg!", schrei Kinga sie an sobald die Feuerwehrfrau außer Hörweite war. Der Lärm des Feuermelders hatte auch sie geweckt. "Willst du etwa das ganze Haus abfackeln?!" "Aber ich wollte doch nur..." versuchte Klaudia zu erklären, doch das interessierte Kinga kein Stück.“Du wirst das hier alles wieder sauber machen, hast du verstanden. Gott, jetzt richt es hier wie in einer Räucherhütte, du bist echt zu dämlich!"


Klaudia verstand die Welt einfach nicht. Was hatte sie bloß getan? Warum war Kinga wieder so gemein zu ihr. Natürlich war es dumm von ihr gewesen, die Küche in Brand zu stecken. Sie hätte besser aufpassen müssen. Aber sie hatte es doch nicht mit Absicht getan! Sie hatte gerade selbst panische Angst bekommen. Warum konnte Kinga sie nicht in den Arm nehmen und trösten?


Doch Trost konnte Klaudia von Kinga nicht erwarten. Ihre große Schwester zog sich hastig an und verließ das Haus mit einem lauten Türknallen. Wer konnte schon sagen, wann sie diesmal nach Hause kam. Wenn Klaudia doch wenigsten zur Schule hätte gehen können, aber es war Wochenende und sie musste den ganzen Tag hier bleiben. Und erst jetzt drang der Schock des Küchenbrandes wirklich zu ihr durch. Laut schluchzend warf sie sich auf die Couch im Wohnzimmer und weinte sich zitternd in den Schlaf.


Sie schlief einige Stunden. Als sie aufwachte, tat sie genau das, was Kinga von ihr verlangt hatte. Sie schrubbte so lange, bis man dem Herd die Brandspuren nicht mehr ansehen konnte und auch der Ruß von den Wänden ließ sich erstaunlich gut abwaschen. Dennoch war Klaudia sehr unglücklich.


Eigentlich wollte sie niemanden um Hilfe bitten. Sie wusste, dass jeder sofort bei mir angerufen hätte und meine Tochter wollte um jeden Preis vermeiden, dass ich mich noch schlechter fühlte. Trotzdem konnte sie nicht länger alles in sich hinein fressen und rief ihren Opa an. Schon als sie ihn die Straße runter kommen sah, lief sie auf ihn zu und sprang ihm in die Arme. Sie hatte sich vorgenommen nicht zu weinen, aber dieser Vorsatz war in der Sekunde dahin, als sie in Anans tröstenden Armen lag.


Anan begriff sofort, das Klaudia ihre Mutter vermisste. Von den Problemen mit Kinga ahnte er aber nichts. Und Klaudia überlegte lange, bevor sie sich entschied, ihm auch nichts davon zu erzählen. Aber wenigstens konnte sie sich über den Küchenbrand ausweinen und zum Glück machte Anan ihr keinen Vorwurf sondern spendete ihr den Trost, den sie brauchte. "Wenn du willst, Kleines, dann kannst du auch für ein paar Tage zu Oma und mir kommen. Oder komm wenigstens zum Essen vorbei". Klaudia versprach es, sich zu überlegen. Aber jetzt, wo sie ihrem Kummer ein wenig Luft machen konnte, ging es ihr wieder deutlich besser.


Den Rest des Nachmittags verbrachte sie dann damit, mit ihrem Opa ein paar Körbe zu werfen. Es tat gut, ihn um sie herum zu wissen. Und anders als bei Kinga, konnte sie sich darauf verlassen, dass ihr Opa nicht plötzlich fies und gemein wurde. "Vielleicht sollte Oma und Opa wirklich jeden Tag besuchen", überlegte sie, "dann vergehen die restlichen Tage ohne Mama sicher auch viel schneller".

 

 


Kinga war direkt am Morgen zu Alex gefahren. Nach Sonnenuntergang zogen die beiden los und gingen auf den Friedhof. Es war ein Platz, den die beiden öfter aufsuchten, wenn sie ungestört sei wollten. "Hier liegt doch dein Alter, oder?", fragte Alex als Kinga ein Grab näher begutachtete. "Ich mein, dein richtiger Vater, der, der bei deiner Alten einen Volltreffer gelandet hat". Kinga blickt ihn finster an. "Was spielt das für eine Rolle?", erwiderte sie achselzuckend. Wenn sie ehrlich sein sollte, wusste sie selbst nicht so genau, warum sie zu Alberts Grab gegangen war, es war aber nicht das erste Mal, dass sie dort hin gefunden hatte.


"Hey, meine dunkle Wächterin der Nacht, ich wollte dich nicht verärgern". Sie waren etwas weiter auf den Friedhof vorgedrungen und Alex zog Kinga fest an sich. Sie blickte ihm tief in die schwarz eingerahmten Augen und sofort war ihr Anflug von Wut wieder verflogen. Alex hatte einfach diese Wirkung auf sie, die sie nicht so recht beschreiben konnte. Ob das Liebe war? Es fühlte sich auf alle Fälle gut an.

 

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