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Unsere Landung in Warschau verzögerte sich aufgrund von starkem Schneefall um fast ein Stunde. Dominik und ich hatten uns zwar auf kühleres Wetter eingestellt, die Massen an Schnee überraschten uns dennoch. Eingepackt in unsere Wintermäntel machten wir uns auf dem Weg zur Wohnung meiner Tante. Als wir halb erfroren dort ankamen und klingelten, warf meine Tante sich mir erleichtert um den Hals. "Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Oxana", begrüßte sie mich. "Und ich bin dir unendlich dankbar, dass du Dominik mitgebracht hast".


Wir stellten unsere Koffer im Flur ab und Tante Kasia führte uns in die Küche, wo sie uns gleich etwas zu Essen servierte und türkischen Kaffee kochte. Ich konnte deutlich erkennen, wie sehr sie unter Spannung stand und ich erkannte in ihrem Gesicht viel Falten, die bei meinem letzten Besuch vor zwei Jahren nicht in ihrem Gesicht sichtbar gewesen waren. Da ich sie nicht unnötig aufregen wollte, wartete ich geduldig ab, bis sie sich zu uns gesetzt hatte und einen tiefen Schluck von ihrem Kaffee nahm. Dann konnte ich mich aber nicht länger warten. "Wie geht es babcia? Kann...kann ich sie sehen? Ist sie oben in ihrer Wohnung?" Dominik verstand zwar kein Wort von dem, was ich zu meiner Tante sagte, aber er ahne wohl, was ich gefragt hatte und sah meine Tante ebenfalls besorgt an.


"Ja, Mama ist oben", erkläret Tante Kasia. "Sie schläft im Moment...oder zumindest hoffe ich, dass sie schläft. Ihr...ihr könnt gleich zu ihr hoch gehen. Aber ich möchte dich warnen, Oxana. Sie ist wirklich nicht mehr die Frau, die du noch bei deinem letzten Besuch gesehen hast, also sei auf das Schlimmste gefasst." Ich nickte stumm. "Vielleicht ist es besser, wenn du erst einmal alleine zu ihr hoch gehst. Zu viel Menschen machen Mutter gelegentlich Angst". Abermals nickte ich. "Oxana und iech gechen hoch. Du bleiben chier, ja?", sagte sie zu Dominik gewand in gebrochenem Simlisch und auch er legte keinen Widerspruch ein.


Mit dem Fahrstuhl fuhren wir in den neunen Stock des Plattenbaus, der nun bereits der dritten Zaskurski-Genertion ein Zuhause bot. Meine Großeltern haben ihr halbes Leben hier verbracht, mein Vater und seine Schwester waren hier aufgewachsen. Und auch ich habe hier über ein Jahr lang gelebt und nun wohnten meine Nichten und Neffen in diesem Betonbau. Tante Kasia schloss die Tür zur Wohnung meiner Großmutter auf und wir traten ein. Ich musste unwillkürlich lächeln, denn es hatte sich immer noch nichts verändert. Es sah genau so aus, wie ich es vor zwei Jahren in Erinnerung hatte und wie bei jedem Besuch davor und selbst zu der Zeit, als ich hier lebte. "Mamo, bist du wach", rief Tante Kasia in die Wohnung hinein. "Ich habe Besuch für dich".


Dann hörten wir auch schon lautes Rufen aus dem Badezimmer. Als ich vorsichtig durch die Tür schaute, sah ich meine Großmutter. Nur in ihrem Nachthemd bekleidet und mit zerzauster Frisur stand sie in der Badewanne. "Mamo, was machst du denn da?", fragte Tante Kasia mit einer Mischung aus Besorgnis und Verärgerung in der Stimme. "Hier drin ist es viel zu kalt, du erkältest dich noch". "In diesem Boot ist kein Platz mehr", krächzte meine Großmutter. "Ihr müsst Euch ein anderes suchen um über die Weichsel zu kommen. Ich muss schnell hinüber, mein Piotr wartet schon auf mich".


"Mamo, komm bitte aus der Wanne raus", forderte Tante Kasia sie auf und legte ihre Hand auf den Arm meiner Großmutter, um ihr hinaus zu helfen. Doch diese stieß sie zurück. "Lass mich in Ruhe, du hintertückisches Weib", giftet sie meine Tante an. "Du willst doch nur das Boot haben, damit du als erste bei meinem Piotr sein kannst. Aber er gehört mir. Du wirst mich nicht von ihm verhalten." Ich war zutiefst entsetzt über die Szene, die sich gerade vor meinen Augen abspielte. Meine Großmutter erkannte nicht einmal ihre eigen Tochter. Es war wohl nicht das erste Mal, das so etwas geschah, denn Tante Kasia schien relativ gefasst.


"Babciu, ich bin es, Oxana", machte ich mich zaghaft bemerkbar. Meine Großmutter hörte für einen Moment damit auf, ihr imaginäres Boot mit einem langen Stab über die Weichsel zu manövrieren. Neugierig schaute sie mich an und ein Lächeln zeichnete sich auf ihren faltigen Lippen ab. Sie erkannte mich! Sie erkannte mich wirklich. Meine Großmutter stieg aus der Badewanne und kam auf mich zu. "Du bist aber ein hübsches Kind", sagte sie. "Mein Piotr hat sicher einen schönen Freund für dich. Komm, komm zu mir ins Boot". Tränen schossen mir in die Augen, die ich kaum zurück halten konnte. Meine Oma lächelte immer noch, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer ich war. Plötzlich wurde sie ernster. "Kasia, ich bin müde", sprach sie meine Tante an. "Hilf mir bitte ins Bett. Aber binde das Boot gut fest. Ich werde es gleich morgen noch einmal probieren".


Tante Kasia stützte meine Großmutter und führte sie ins Schlafzimmer. Erst jetzt erkannte ich, wie schwach meine Oma war. Ihre Beine zitterten und ich hatte Angst, dass sie jeden Moment hinfallen könnte. Meine Tante deckte meine Großmutter zu und diese schlief auch augenblicklich ein. "Ist sie etwa immer so?", fragte ich tief bestürzt über den Zustand der Mutter meines Paps. "Nicht immer", antwortet Tante Kasia, "aber ihre klaren Momente werden seltener. Wenn sie ausgeschlafen ist, dann geht es ihr meist besser. Sie wird dich noch erkennen, Oxana, da bin ich mir sicher."


Ich saß einige Minuten am Bett meiner Großmutter und beobachtete, wie ihre Brust sich gleichmäßig bei jedem Atemzug hob und wieder senkte. Jetzt wo sie schlief, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass es ihr nicht gut ginge. Als ich Schritte im Flur hörte, verließ ich das Schlafzimmer und sah, wie Dominik seinen und meine Koffer auf den Boden abstellte. Um meine Großmutter nicht zu wecken, ging ich mit ihm ins Wohnzimmer. "Und wie geht es ihr", fragte er betroffen. Ich lächelte trauurig und ließ den Kopf hängen. "Sie hat mich nicht einmal erkannt. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass es so schon so schlimm ist".


Bevor Dominik etwas erwidern konnte, kam auch schon Tante Kasia mit einem Stapel Kissen und Decken in der Hand ins Wohnzimmer. "Danke, dass du hier oben bei Mama bleibst", sagte sie zu mir. "Ich will sie nur ungern allein lassen und wenn ihr ehrlich bin, dann bin ich froh, endlich wieder eine Nacht zusammen mit Kazik in einem Bett zu verbringen. Ich hab schon fast vergessen, wie mein Mann aussieht". Sie legte die Kissen neben die Couch und begann das Sofa für die Nacht vorzubereiten. "Ich hoffe, Dominik wird unter der Wolldecke nicht frieren", redete sie vor sich her. "Es tut mir leid, dass ich ihm nichts Bequemeres anbieten kann."


Dann richtete sie sich schlagartig auf und blickte mich über die Schulter an. "Es ist doch in Ordnung, wenn ihr beiden hier in einem Zimmer schlaft." Unsicher sah sie abwechselnd mich und dann Dominik an und auch wenn Dominik wahrscheinlich nicht ganz verstand, worum es ging, versteifte er sich. "Wenn es euch lieber ist, dann kann er auch bei uns unten auf dem Sofa schlafen. Ich dachte nur, weil er kein Polnisch spricht und...". "Es wird schon gehen, Tante Kasia", unterbrach ich sie und blickte Dominik an. "Wir werden es wohl schon überleben, in einem Raum zu schlafen, nicht wahr, Dominik?"


Dominik war damit einverstandener und meine Tante sichtlich erleichtert. Sie machte das Sofa zum Schlafen fertig, sah noch einmal nach meiner Großmutter und ging dann runter zu ihrem Mann und ihren Kindern. Dominik und ich aßen noch etwas, verstauten unsere Kleider im Schrank und unterhielten uns noch eine Weile. Schließlich verschwand Dominik im Badezimmer um sich für die Nacht fertig zu machen. Auch ich zog mich um und kniete mich vor meinem früheren Bett zum Beten nieder. Mein ganzes Gebet drehte sich fast ausschließlich um meine geliebte babcia. Als Dominik wieder kam, war ich immer noch in das Gebet vertieft und erst als er sich leise räusperte, bemerkte ich, dass ich nicht länger allein war.


"Ich wollte dich nicht stören", entschuldigte er sich und eilte auf Zehnspitzen zu seinem Schlafplatz, wo er sich eilig unter die warme Wolldecke kuschelte. Auch ich schlüpfte unter meine Daunendecke. Irgendwie fühlte ich mich ein wenig seltsam dabei, dass mein Ex-Mann mich in meiner knappen Nachtwäsche sah. "Hast du die Kinder erreicht?", flüsterte er. "Ja", antwortete ich, "Klaudia sagt, es wäre alles in Ordnung". "Dann ist ja gut", murmelte Dominik und wenige Augenblicke später hörte ich ein leises Schnarchen aus seiner Richtung. Früher hat er nicht geschnarcht, schoss es mir durch den Kopf, doch ehe ich den Gedanken fortsetzen konnte, glitt auch ich in das Reich der Träume hinüber.

 

 


Als der Wecker klingelte, schlug Klaudia widerwillig die Augen auf. Geschlafen hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr. Sie hatte die halbe Nacht wach gelegen, doch Kinga war nicht zurückgekommen. Klaudia stand auf und zog sich an. Irgendwie war sie froh, dass sie jetzt in die Schule musste, dann war sie nicht mehr länger allein. Als ich sie gestern anrief, hatte sie einfach behauptet, ihr würde es gut gehen und alles wäre in bester Ordnung. Sie wollte mich nicht noch zusätzlich belasten. Aber eigentlich war nichts in Ordnung. Sie fühlte sich einsam und allein gelassen und nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurück halten, die bereits begannen ihre Wange hinunter zu kullern.


Leider war die Schule viel zu früh wieder vorbei. Der Schulbus setzte Klaudia vor der Simlane ab und wieder war sie alleine. Zum ersten Mal wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie gar keine wirklichen Freunde hatte. Bis jetzt war das auch irgendwie egal gewesen. Sie hatte es nie sonderlich vermisst, sich außerhalb der Schule mit irgendwelchen Kindern zu treffen. Die gemeinsamen Schulpausen und gelegentlichen Besuche im Freibad oder Kino hatten ihr immer genügt. Nun wünschte sie sich jemanden, aber weil es einfach niemanden gab, musste sie sich mit der Gesellschaft der Ameisen in ihrem Formicarium zufrieden geben. Einige Stunden nach Schulschluss tauchte auch Kinga auf. Doch anstatt einer freundlichen Begrüßung, ging sie gleich wieder auf ihre Schwester los. "Hast du dir schon mal den Saustall im Badezimmer angesehen, Giftzwerg?", fauchte sie sie an. "Los mach das sofort sauber, aber flott!".


Wäre es nicht so traurig, dann hätte Klaudia die Vorstellung vielleicht sogar lustig gefunden, denn im Moment fühlte sie sich wie Aschenputtel. Und Kinga war die böse Stiefmutter und beide bösen Stiefschwestern in einer Person. Dennoch wagte Klaudia es nicht, ihrer Schwester zu widersprechen und machte sich an die Arbeit. Warum war Kinga bloß so gemein? Es wollte einfach nicht in ihren Kopf.


Das war eine Frage, die höchstens Kinga selbst beantworten konnte. Aber ich vermutete fast, dass sie den Grund für ihre Wut auf ihre kleine Schwester, auf die halbe Stadt und sogar auf mich gar nicht mehr kannte. Im Laufe der Zeit hatte sie sich einfach daran gewöhnt, gemein und wütend zu sein und jetzt wusste sie nicht mehr, wie sie damit aufhören sollte, selbst wenn sie es gewollt hätte. Und aus ihrer Sicht ging es ihr ja auch nicht schlecht. Endlich konnte sie tun und lassen, was sie wollte und im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie auch Freunde, die mit ihr auf einer Wellenlänge lagen, auch wenn es nicht die Wellenlänge ihrer meisten Mitmenschen war. "Kommt dann einfach zu mir", lud sie spontan ihre Clique ein. "Ich besorge gleich den Alk und ihr bringt die Wasserpfeife mit".


Ein Blick von Kinga genügte um Klaudia eindeutig zu versichern, dass sie an diesem Abend ihr Zimmer nicht verlassen sollte. Diese Warnung war aber eigentlich überflüssig, denn Klaudia fürchtete sich vor Kingas schwarz gekleideten Freunden seit dem Tag, als sie ihr Puppenhaus mutwillig zerstörten. Kurz nach Sonnenuntergang fuhr ein Auto in die Einfahrt und Hannes Bertino kramte eine große Wasserpfeife aus dem Kofferraum. Mit einem Glas in der Hand zwinkerte Kinga ihm zu Begrüßung zu. "Geil, dass du das Ding mitgebracht hast". "Joh, no Prob, Ki. Das wird ne entgeile Party".


Kurz darauf hupte das nächste Auto und der Rest von Kingas Clique trudelte ein. Sie begrüßte alle kurz mit einem Kopfnicken und warf sich dann ihrem Freund in die Arme, der im schwarzen Ledermantel durch das Gartentor spazierte. "Man suchte euch doch ein Zimmer", stöhnte Marlon, als er mit ansehen musste, wie Alex und Kinga sie ihre Zungen gegenseitig in den Hals steckten. "Das haben die beiden schon gestern", erwiderte Farina, Alex’ platinblonde Schwester "Und das was du jetzt siehst, ist harmlos im Vergleich zu dem, was die beiden gestern getrieben habe. Macht nächstes Mal wenigstens Musik an, damit ich nicht jedes Stöhnen mit anhören muss!" "Du bist doch nur neidisch, weil du es dir selbst machen musstest", warf Kinga schnippisch zurück und beide Freundinnen grinsten sich an.

 

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