Kapitel 1
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Der Wachmann zerrte sie zu einem Wagen, der einige duzend Meter weit von der Baracke entfernt stand, gerade so weit, dass man ihn von der Holzhütte aus nicht bemerken würde. Durch die verdunkelten Scheiben konnte Kinga nicht nach draußen sehen, aber als der Wagen hielt, wurde die Tür geöffnet und Kinga höflich aufgefordert auszusteigen. Der Wachmann nahm ihr die Handschellen ab und als sie sich umblickte, sah sie ein großes Backsteingebäude auf einer Wiese. Und davor stand Hajo, der einladend die Arme ausbreitete. "Herzlich willkommen, Kinga!"

 
 
 

Kinga war so überrascht ihren alten Freund wieder zu sehen, dass es ihr die Sprache verschlug. Hajo nahm sie an der Hand und führte sie über die Brücke, die den Graben um das Backsteingebäude überspannt. Erst als sie durch die riesige Eingangstür ins Innere des Gebäudes kamen, konnte Kinga wieder klar denken. "Hajo, was ist das hier? Wo sind wir", fragte sie, überwältigt von den Eindrücken, die auf sie eindrangen.

 
 
   
 

"Das hier ist die zentrale Verwaltung des Lagers, in dem du die letzten zwei Jahre verbracht hast", erklärte Hajo. "Von hier aus werden die neuen Studenten eingeteilt, die Lehrer und Aufseher erhalten von hier ihre Befehle. Und von hier aus können wir auch beobachten, was die Studenten so treiben. Das Lager wird um die Baracken herum eigentlich vollständig Abgehört und Video-Überwacht". Immer noch konnte Kinga nicht so recht glauben, was sie hörte. "Und was soll ich hier?", fragt sie schließlich. "Hier arbeite", antwortete Hajo knapp. "Senora Ewa hat dich hierher versetzen lassen. Du wirst also ein paar Wochen bei uns verbringen".

 
   
 
 

Kinga fühlte sich so dumm, weil sie wirklich gedacht hatte, dass ihrem Freund Hajo etwas Schreckliches angetan worden war. Dabei war er nur hierher in die Verwaltung versetzt worden. Und sie erfuhr, dass auch Rabea lediglich in ein anderes Lager verlegt worden war. Kinga erhielt eine Uniform, wie all die anderen sie auch trugen, und wurde in die Arbeit in der Verwaltung eingeführt. Die Arbeit war nicht sehr aufregend. Hauptsächlich war sie damit beschäftigt, die Akten von Jugendlichen aus aller Welt durchzugehen und darunter die Interessanten heraus zu suchen. Insgeheim hoffte sie, dass sie nicht allzu lange hier bleiben würde.

 
 
 
 

Etwas Abwechslung bot nur die Arbeit an der Maschine zum Geldfälschen. Kinga dachte es sei ein Witz, als man ihr auftrug Falschgeld zu drucken. Aber anscheinend gehört das zu ihren zukünftigen Job. Das Falschgeld sah erstaunlich echt aus und das bisschen würde sicherlich keinem weh tun. Nur war die Arbeit furchtbar anstrengend. Die Maschine war gut und gerne fünfzig Jahre alt und wurde von Hand bedient. Immerhin musste Kinga so nicht noch zusätzlich trainieren.

 
 
 
 

Nachdem Kinga fast einen Monat in der Verwaltung verbracht hatte, tauchte Senora Ewa auf und wollte Kinga sprechen. "Was kann ich für sie tun, Senora Ewa?", fragte sie ihre Großtante. "Du wirst noch heute das Lager verlassen", erklärte diese. "Ein Wagen wartet draußen auf ".

 
 
   
 

"Ein Wagen? Und wohin soll ich fahren? Und was ist mit meinen Freunden hier im Lager? Romina, Tabea und all die anderen, kann ich mich gar nicht mehr von ihnen verabschieden?", fragte Kinga überrascht. Und was war mit Olek? Würde sie ihn auch nie mehr wiedersehen können? Kinga bildete sich ein, dass Senora Ewas Mundwinkel bei der Erwähnung von Tabeas Namen seltsam gezuckt hätte. "Du wirst sie sicherlich irgendwann wieder sehen", erklärte sie lediglich. "Es bleibt keine Zeit, um noch mal ins Lager zu fahren. Wenn du willst, kannst du dich von den Leuten hier verabschieden, aber beeil dich. Wir haben nicht viel Zeit".

 
   
 
 

Der einzige Mensch, von dem Kinga sich hier verabschieden wollte, war Hajo. "Ich wollte nicht einfach so verschwinden, wie du damals aus meinem Leben verschwunden bist", erklärte sie. Und aus einem Impuls heraus, küsste sie ihn, ungeachtet dessen, was Senora Ewa sagen würde, die sich mit einer Mitarbeiterin ganz in der Nähe unterhielt. "Wenn wir an einem anderen Ort gewesen wären und die Umstände nicht so, wie sie nun mal sind, dann hätte ich dich vielleicht lieben können, Hajo", beteuerte King. "Sssch, Kinga. denk nicht darüber nach was hätte sein können. Und nun solltest du los. Senora Ewa guckt schon sehr böse zu uns rüber".

 
 

 

 

 
 
 
 

Im Wagen lagen neue Kleider für Kinga bereit. Ihre Uniform musste sie zurücklassen und auch sonst durfte sie nichts mit sich nehmen. Der Wagen mit den verdunkelten Scheiben brachte sie in ein Lagerhaus, das ungefähr zwei Fahrstunden von ihrem letzten Aufenthaltsort entfernt lag. Von dort aus ging es mit einem gewöhnlichen Lieferwagen weiter. Die Fahrt führte nur über Feldwege und Landstraßen und Kinga erkannte erst, dass sie nach SimCity unterwegs war, als sie die Stadt bereits erreicht hatten. Nach einer fast 20 Stündigen Fahrt setzte der Fahrer sie vor dem Gebäude der "Sky Meal" ab. Ohne ein Wort zu sagen, fuhr er wieder weg. Kinga kratzte sich ratlos am Kopf und sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Also entschied sie sich, das Gebäude einfach mal zu betreten.

   
 
 
 

Noch bevor sie die Dame am Empfang ansprechen konnte, blickte diese von ihrem Computer auf. "Willkommen, Miss Blech. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise. Senora Ewa erwartet Sie bereits. Ihr Büro liegt im zweiten Stockwerk. Zimmer 203".

 
   
 
 

Sichtlich verwirrt stieg Kinga in den Fahrstuhl. Wieder einmal ergab alles keinen Sinn. Warum hatte ihre Großtante denn ein Büro bei bei "Sky Meal"? Und woher wusste die Empfangsdame, wer sie war? Senora Ewa würde ihr dafür sicher eine Erklärung liefern können, also klopfte Kinga beherzt an die Tür und trat ein, ohne ein Antwort abzuwarten. "Wieso sind Sie auch hier?", war das Erste, was Kinga fragte. "Hätten wir dann nicht gemeinsam hier her kommen können. Ganz offensichtlich kennen Sie eine schnellere Art zu reisen. Und ich vermute, auch eine deutlich bequemere".

 
 

"Bitte setzt dich Kinga", forderte Senora Ewa sie auf. "Es war nötig, hier vor deiner Ankunft noch einige Dinge zu regeln. Es geht dabei um deine Mitbewohnerin Tabea". "Wenn es um die Party geht, das war meine Idee. Tabea trifft keine Schuld", unterbrach Kinga sie. "Die Party hat uns nie interessiert, Kinga. Ihr seid kurz ausgebrochen und danach brav zurück gekehrt. Es hatte keine Auswirkungen auf eure Leistungen, als ging es uns nichts an. Nein, Kinga, es ist etwas viel Ernsteres passiert. Tabea wurde zu ihrem ersten Einsatz geschickt, ähnlich dem, den du mit Romina hattest. Aber sie ist nicht wieder gekommen. Tabea ist tot, Kinga".

   
 
 
   

"Was?", keuchte Kinga. "Das kann nicht sein. Das ist doch nicht möglich". "Doch Kinga, das ist es. Unser Beruf ist mit vielen Gefahren verbunden. Tabea kannte das Risiko". "Aber...aber was ist passiert. Warum habt ihr nicht auf sie aufgepasst? Es war ihr erster Einsatz!" Senora Ewa umfasste die Armlehnen ihres Stuhls, sodass ihre Knöchel weiß hervor traten. "Nein, dass hätte nicht passieren dürfen. Und sei dir versichert, dass Tabeas Kontaktmann bereits zur Verantwortung gezogen worden ist. Er hat nicht aufgepasst und zugelassen, dass sie erschossen wurde".

 
 
 
 

"Aber was viel wichtiger ist, wir haben das Schwein gefasst, dass Tabea erschossen hat", fuhr Senora Ewa fort. "Er befindet sich hier im Gebäude". Kinga sprang von ihrem Stuhl auf und ballte wütend die Faust. "Ich will zu ihm!", forderte sie. "Ich will den Mistkerl in die Augen sehen, der meine Freundin auf dem Gewissen hat". "Und genau deshalb bist du hier, Kinga. Aber bist du wirklich schon bereit, ihm jetzt gegenüber zu treten?" Kinga nickte.

 
   

 

 

   
 

 
 

Senora Ewa erhob sich von ihrem Schreibtisch und gab Kinga zu verstehen, ihr zu folgen. Sie gingen zum Fahrschule und die rothaarige Frau hielt eine Chipkarte an ein Lesegerät an der Tafel mit den Etagen-Tasten und betätigte die ansonsten deaktivierte Taste für die dritte Etage. Als die Fahrstuhltür sich öffnete, schritt Senora Ewa hinaus, hielt aber noch einmal inne. "Der Kerl befindet sich dort hinter ". Sie deutete auf eine schäbige Tür vor ihnen. "Das ist deine letzte Chance umzukehren". Doch daran dachte Kinga nicht einmal. Ohne weiter zu überlegen nahm sie die Chipkarte aus Senora Ewas Hand und öffnete damit die Tür.

   
 
 

Der Mann blinzelte, als die Tür aufschwang und das grelle Sonnenlicht in die finstere Zelle flutete. Er saß gefesselt auf einem Stuhl und sein Gesicht war gekennzeichnet von zahlreichen Kratzern und blauen Flecken. So wie es aussah, hatte man sich seiner schon angenommen.

   
   
 

"Und wer bist du?", fragte er und spuckte dabei Blut. "Schicken sie jetzt kleine Mädchen um mich zum Reden zu bringen? Das letzte kleine Mädchen habe ich wie ein Flieg zerquetscht". "Halt dein Maul, Mistkerl!", brüllte Kinga ihn an. Er fing an zu lachen. "Warum hast du sie umgebracht? Warum musste Tabea sterben? Warum?!". "Weil das klein Flittchen dachte, sie kann mich austricksen", spie er durch zusammengekniffen Zähne hindurch. "Sie dachte, sie kann einfach so bei mir einbrechen, meine Hunde töten und ungeschoren davon gekommen. Und dafür musste diese Hure sterben. Ich hab sie einfach abgeknallt, aus nur einem Meter Entfernung, mitten auf einem Parkplatz. Ihr dummes Gesicht, als sie blutend zu Boden sank, war die ganze Mühe fast schon wieder wert".

 
   
 
 

Als er wieder anfing zu lachen konnte Kinga nicht mehr länger an sich halten und schlug in mit geballter Faust ins Gesicht. Sein Kopf schleuderte nach hinten und schlug heftig gegen die Wand. "Wag es ja nie wieder, so über sie zu sprechen, du Hurensohn!"

 
 
 

"Mach dir deine Hände doch nicht schmutzig, Kinga". Kinga zuckte zusammen, als sie die Stimme ihrer Großtante hinter sich hörte. Sie hatte völlig vergessen, dass sie auch im Raum war. Sie stoppte damit, weiter auf Tabeas Mörder einzuprügeln. Senora Ewa schritt auf sie zu und legte ihr etwas in die Hand. Kinga blickte überrascht hinunter und sah die Pistole. Langsam blickte sie auf und sah ihrer Großtante in die Augen. Und diese nickte. "Bring dieses Schwein um. Er hat es nicht anderes verdient".

   

 

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