Kapitel 1
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Das wurde ihr so richtig bewusst, als sie in der winzigen Nasszelle ihres Betonbunkers stand und das warme Wasser auf ihren Körper niederprasselte. Hajo und sie hatten sich noch ein Stück weiter von der Gruppe entfernt und sich auf dem mit Moos bedeckten Waldboden geliebt. Kinga bereute diese Tat in keinster Weise, auch nicht, als der Alkohol langsam seine Wirkung verlor. Partys, Rauschmittel und Männer, mehr als diese drei Dinge brauchte sie nicht, um glücklich zu sein und sie schämte sich nicht dafür.

 
 
 

Hajo war ganz sicher nicht Kingas große Liebe. Irgendwie gehörte dieser Platz immer noch Alex, auch wenn sie ihren Freund, oder sollte sie lieber sagen Ex-Freund, gut genug kannte um zu wissen, dass er nicht lange getrauert hat und sicher schon eine Neue hatte. Sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Schließlich würde sie mit Hajo auch ihren Spaß haben, ganz egal, ob sie ihn nun liebte oder nicht. Doch als sie am übernächsten Tag das Klassenzimmer betrat, stellte sie verwundert fest, dass von Hajo weit und breit keine Spur zu sehen war. Und auch Rabea war nirgends zu entdecken.

 
 
   
 

Sie fragte ihre Kommilitonen, doch keiner konnte, oder wollte, ihr sagen, wo Hajo und Rabea waren. Von Jasmin wusste sie, dass sie mit den beiden in einer Baracke lebte. Sie musste doch wissen, wo die beiden waren und so bettelte sie so lange, bis Jasmin ihr schließlich doch eine Antwort gab. "Ich weiß auch nichts genaues, aber ich hab durch den Türspalt zufällig mitbekommen, wie Rabea ihre Sachen packte. Ich fürchte, die beiden sind irgendwo anders hin gebracht worden, aber ich habe keine Ahnung wohin". Das Entsetzen war Kinga deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie diese Worte hörte.

 
   
 
 

Kinga spürte instinktiv, dass Jasmin die Wahrheit sagte. Hajo und Rabea waren weg. Und Kinga kannte auch den Grund dafür. Irgendwer muss den Aufsehern von der Party auf der Waldlichtung erzählt haben. Irgendwer muss sie verpetzt haben. Und was Kinga besonders belastete war der Gedanke, dass im Grund sie der Auslöser gewesen war. Solche Partys hatten schon öfter statt gefunden und bis jetzt war nie etwas passiert. Doch kaum war sie mit dabei, verschwanden zwei Menschen und ausgerechnet die beiden, mit denen sie sich am besten verstand. Das konnte kein Zufall sein. Irgendwer war ganz und gar nicht damit einverstanden, dass sie ihre Zeit mit Feiern und Männern verbrachte. Das Verschwinden von Hajo und Rabea waren sicherlich eine Warnung.

 
 

 

 

 
 
 
 

Rabea und Hajo tauchten nicht mehr auf. Der Sommer verstrich und es begann bereits, merklich kühler zu werden. Mit jedem Tag wechselte das satte Grün des Waldes mehr zu einem Farbenspiel aus Rot und Gelb. Kinga hatte sich damit abgefunden, dass es ihr nicht gestattet war, ihre Zeit hier mit etwas anderem als der Schule zu verbringen. Und um sich gar nicht erst in Versuchung zu bringen, mied sie den Kontakt zu ihren Mitschülern. Sie ging zur Schule, machte ihre Aufgaben. Der einzige Luxus, den sie sich gönnte, waren die von Hass erfüllten Gedanken an ihre Mutter vor dem Einschlafen. Und so hätte ihr Leben noch Monate lang weiter gehen können, wäre sie eines Tages nicht in ihren Bunker heimgekehrt und hätte plötzlich ein zweites Bett darin vorgefunden.

 
 
 
 

Zunächst war sie geschockt. Der Bunker war für eine Person schon fast zu klein, wie sollte es dann erst mit zwei Menschen funktionieren? Bevor sie sich weitere Gedanken machen konnte, hörte sie schon das Quietschen des Tores und sie schaute durch die Tür. "Hallo, Kinga", begrüßte Olek sie. "Du hast sicher schon gemerkt, dass du eine Mitbewohnerin erhältst. Das hier ist Romina". Er zeigte auf ein junge Frau Anfang Zwanzig, die sich schüchtern hinter dem Tor versteckte.

   
 
 
   

Kinga wollte noch protestieren, aber Olek stellte einfach Rominas Koffer in den Bunker und verschwand wieder, so wie er es immer tat. Kinga konnte nicht verbergen, dass sie keineswegs froh war, dass diese Fremde nun ihre Unterkunft mit ihr teilen sollte. Unsicher beobachtet Romina, wie Kinga sich frustriert die Haare raufte und sich mit den Handflächen gegen die Stirn schlug. Auch sie hätte sich ihre Ankunft gerne anders vorgestellt.

 
 
 
 

Kinga hatte keine Lust sich mit Romina zu beschäftigen und ignorierte sie den kompletten ersten Abend lang. Sie legte sich einfach ins Bett und Romina tat es ihr schweigend gleich. Ebenfalls schweigend machten sie sich auf den Weg zur Schule und schwiegen sich auch auf dem einstündigen Rückweg an. Erst als sie wieder am Bunker waren, war Kinga bereit, sich ihrer neuen Mitbewohnerin zu öffnen. Sie setzte sich aufs Gras und machte Romina deutlich, dass sie dies auch tun sollte. "Ich bin Kinga", stellte sie sich zum ersten Mal richtig vor. "Ich weiß", antwortet das Mädchen schüchtern und klammerte sich an ihrem Knie fest. "Olek hat es mir erzählt. Es tut mir leid, dass ich dir Unannehmlichkeiten bereite. Das wollte ich nicht".

 
 

 
 

Kinga war überrascht, dies zu hören. Sie hatte sich bis jetzt noch gar keine Gedanken darüber gemacht, dass dieses Mädchen mit der Wohnsituation genau so unglücklich sein könnte wie sie. "Und was hast du angestellt, dass du in diesem Drecksloch gelandet bist? Diebstahl? Drogen? Knast?", fragt Kinga, nun da ihr Interesse geweckt war. Romina schüttelte entsetzt den Kopf. "Ich habe gar nicht gemacht", beteuerte sie. "Ich bin sogar sehr froh, dass ich hier sein darf. Ich bin in einem Weisenhaus in Moldawien aufgewachsen und vor einigen Tagen kam eine sehr nette Frau zu mir und teilte mir mit, dass meine Schulleistungen so gut seien, dass ich in ein spezielles Förderprogramm in der SimNation aufgenommen werde. Ich bin hier um zu lernen".

   
 

 
 

Kinga wusste selbst nach Monaten noch nicht, was sie eigentlich hier machte. Aber wenn eines klar war, dann dass das hier kein Förderprogramm für hochbegabte Waisenkinder aus Moldawien war. Aber sie sie entschied sich, dies ihrer Mitbewohnerin nicht mitzuteilen. Erstens würde sie ihr wahrscheinlich eh nicht glauben und zweitens spielte es auch keine Rolle. Sie waren nun hier und kamen nicht weg. Ändern ließ es sich so oder so nicht.

 
   

 
 

Sie unterhielten sich noch bis tief in die Nacht. Auf Kinga erzählte Romina ihre Geschichte, wie sie von ihrer Mutter jahrelang belogen und um den Vater gebracht worden war und wie sehr ihre Mutter sie hasste und sie hierher bringen ließ. Romina war bestürzt, allerdings hauptsächlich über die Wut, die sie aus der Stimme ihrer Mitbewohnerin heraus hörte. Sie war nämlich nach wie vor dankbar, endlich dem Waisenhaus entkommen zu sein und auf eine bessere Zukunft hoffen zu können. Jeweils in ihre eigenen Gedanken versunken schliefen die beiden Mädchen ein.

 

 

 

 
   
 

Auch in der Lehrbaracke änderte sich mit dem Eintreffen von Romina für Kinga so Manches. Prof. Elena bat die beiden, nach dem Unterricht noch zu bleiben. "Ihr werdet ab morgen Sonderunterricht bekommen", verkündete sie. "Kinga, welche Sprachen sprichst du?". "Simlisch, Englisch und etwas Polnisch", antwortete diese. "Und du, Romina?", fragte Professor Elena weiter. "Rumänisch, Russisch und Simlisch". "Ihr werdet in all diesen Sprachen ab jetzt gemeinsamen Unterricht erhalten. Ich erwarte, dass ihr euch gegenseitig unterstützt. Zusätzlich werdet ihr Spanisch und Französisch lernen. Kinga", fuhr Prof. Elena fort, "du wirst nur noch den Politik- und Erdkundeunterricht besuchen. Romina, du kommst zu Mathematik und Physik. Das war dann alles."

 
   

 
 

Der Sprachunterricht dauerte oft bis in den späten Abend. Und er unterschied sich stark von dem, was Kinga aus der Schule kannte. Professor Rainer war alles andere als Zufrieden mit den bereits vorhandenen Kenntnissen und so musste Kinga, aber auch Romina, noch einmal ganz bei Null beginnen. Und nicht nur, dass Prof. Rainer extremen Wert auf Grammatik legte, noch viel wichtiger war ihm die Aussprache, mit der er nie, aber auch nie, zufrieden schien, egal wie sehr Kinga sich auch bemühte.

 
 

 
   

Und dann gab es da auch noch diese ganz seltsamen Lektionen in Billard, Darts und Glücksspiel. "Kinga, ich sehe auf den ersten Blick, dass du kein gutes Blatt hast", musterte Prof. Elena sie scharf. "Du hast immer noch nicht gelernt, wie man richtig blufft. Wir üben das nun schon seit Wochen!" Es war nicht so, dass Kinga sich keine Mühe gegeben hätte. Aber die Schauspielerei war ihr offenbar nicht in die Wiege gelegt worden. Und zum anderen verstand sie beim besten Willen nicht, was das ganze sollte. Warum zum Teufel sollte sie Pokern können?!

   
 

 
 

Sie war froh, als sie nach weiteren 1 1/2 Stunden voller Zurechtweisungen von Prof. Elena die Baracke verlassen konnte. Wutgeladen schnappte sie sich eine Axt und schleuderte sie, begleitet von einem Schrei, der den Tiefen ihrer Seele entsprang, auf die hölzerne Zielscheibe. "Ich verstehe nicht, was diese Scheiße soll!", schnaubte sie und warf die nächste Axt und Fluchte lautstark, als sie die Zielscheibe gerade eben traf. "Wir ackern, packen hier wie bescheuert hundert Sprachen auf einmal, knobeln an hirnrissigen Rätseln und spielen Poker! Und keiner erklärt uns, was das ganze soll. Also ich hab langsam echt die Schnauze voll!"

   

 
 

"Nun, dann sollst du deine Erklärung bekommen". Kinga zuckte panisch zusammen und ließ vor Schreck fast die Axt fallen. Sie hatte nicht bemerkt, wie die rothaarige Frau zu Romina und ihr herüber geschritten war und sie bereits eine ganze Weile beobachtet und belauscht hatte.

   
   
 

Der ersten Überraschung folgte sogleich die zweite. Kinga stellte langsam die Axt ab und betrachtete eingehend die Frau, die vor ihr stand. War das möglich? Konnte es sein, dass..."Tante Ewa?", fragte sie schließlich. Die Frau vor ihr zog kaum merklich die Mundwinkel hoch, was wohl ein Lächeln andeuten sollte. "Ab heute bin ich für dich nur noch Senora Ewa. Wir mögen verwand sein, aber für solche Gefühlsduselei ist hier kein Platz". Kinga konnte es immer noch nicht fassen. Vor ihr stand ihre Großtante, die Schwester ihres Großvaters Arkadiusz Brodlowski.

 
   
 
 

Bevor Kinga etwas erwidern konnte, kam auch schon Romina auf die beiden zu. "Diese Frau...diese Frau ist deine Tante?" fragte sie ungläubig. "Es war nämlich sie, die mich aus dem Weisenhaus in Moldawien geholt hat. Senora Ewa, ich möchte ihnen dafür danken, tausend Mal! Ich bin so froh, dass ich hier sein darf". Wieder zuckten die Mundwinkel der Frau leicht nach oben. "Du brauchst mir nicht zu danken, Romina. Du wirst Gelegenheit bekommen, uns deine Dankbarkeit zu erweisen...und zwar schon in kürze".

 

 
 

   

 

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