Kapitel 1
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Auf dem Rückflug von Algerien schliefen die beiden wie zwei Steine. Doch kaum waren sie in ihrem kleinen Bunker im Wald angekommen, war alle Müdigkeit wie weggeblasen. "Das war der absolute Hammer!", schwärmte Kinga immerzu. "Und ich dachte wirklich, die beiden Typen würden uns abknallen. Peng, peng! Ich bin im Leben noch nicht so schnell gerannt. Und das in Heels!"

 
 
 

"Glaubst du...glaubst du, Senora Ewa wird uns noch auf weitere Missionen schicken? Sie ist doch deine Tante, du musst mit ihr reden! Ich hab mich noch nie so lebendig gefühlt, wie in diesen wenigen Stunden". "Sie wäre dumm, wenn sie uns nicht wieder los schicken würde. Immerhin hat alles problemlos geklappt. Wir haben die Daten besorgt. Damit kann "Justice" sicher einigen Gaunern das Handwerk legen. Und wir haben dazu beigetragen! Ich kann es immer noch nicht ganz begreifen".

 
 
   
 

So ging das die ganze Nacht hindurch, bis die Mädchen dann schließlich doch den Weg in ihre Betten fanden. Am Morgen wurde Kinga vom Klopfen an der Tür geweckt. Verschlafen öffnete sie und fand ihre Großtante, Senora Ewa, vor. Diese Betrat den Bunker einfach, ohne auf eine Einladung zu warten. Auch Romina wurde langsam wach und Kinga begann sofort aufgeregt von ihrem Einsatz zu berichten.

 
   
 
 

"Der Bericht lag heute Morgen auf meinem Schreibtisch", unterbrach sie ihre Nichte. "Und für euren ersten Einsatz habt ihr beide euch sehr gut geschlagen". "Erster Einsatz? Soll das heißen, es warten weitere Aufgaben auf uns", palpperte Kinga einfach dazwischen. Senora Ewa lachte. "Aber natürlich! Nur nicht jetzt, eure Ausbildung ist noch lange nicht abgeschlossen. Ihr müsst diesen Einsatz eher als einen kleinen Vorgeschmack darauf sehen, was euch in Zukunft bei "Justice" erwarten kann. Aber dafür müsst ihr euch beide anstrengen. Ihr dürft nicht mit halbem Herzen dabei sein. Wir verlangen euren vollen Einsatz."

 
 
 
 

"Und den wird die Organisation von mir auch bekommen", versicherte Kinga ohne zu zögern. "Ich...ich habe diesen Ort gehasst, als ich hier her kam, weil ich nicht verstand, was ich hier sollte. Ich dachte, es wäre nur, damit meine Mutter mich einfach wie ein Stück Abfall entsorgen kann. Aber ich habe mich geirrt. Ich hasse meine Mutter nachwievor, aber es verschafft mir Genugtuung, dass ich durch sie nur noch stärker geworden bin".

 
 
 
 

"Hass ist eine sehr starke Emotion, Kinga. Bewahre ihn dir, denn er kann dir eine Quelle der Kraft sein. Aber sei vorsichtig, dass er dich nicht übermannt. Sonst zerstört er dich und es wäre wahrlich eine Schande, wenn "Justice" dich verlieren würde", warnte Senora Ewa sie eindringlich und hoffte, dass Kinga die volle Tragweite ihrer Worte verstand.

 
 
   
 

"Aber ich bin noch wegen einer anderen Angelegenheit hier", erklärte Senora Ewa. "Ich möchte, dass ihr Eure Sachen zusammen packt. Ihr werdet noch im Laufe des Tages in ein anderes Haus umziehen. Es wird nicht mehr Luxus bieten, als diese hier, aber es ist näher an der Lehrbaracke gelegen und ihr beide werdet nicht länger isoliert werden. Versucht Kontakte zu euren Kommilitonen zu knüpfen. Es kann nicht schaden, wenn ihr früh eure zukünftigen Kollegen bei "Justice" kennen lernt." "Natürlich, Senora Ewa", pflichtete Romina ihr bei und konnte sich ein Kinga gewidmetes verstohlenes Lächeln nicht verkneifen.

 
   

 

 

 
 
 
 

Am Nachmittag kam Olek vorbei und holte die wenigen Sachen ab, die die beiden jungen Frauen besaßen. Mitfahren durften die zwei allerdings nicht. So brachen die beiden zu Fuß zu der Holzhütte auf, die ihnen Olek beschrieben hatte. Wie der Bunker, lag auch diese mitten im Wald, der sich inzwischen in goldenen Herbstfarben präsentierte, aber zur Lehrbaracke waren es gerade einmal 20 Minuten Fußweg.

 
 
 
 

Neugierig blickten die beiden sich in ihrem neuen Zuhause um. Und auch wenn es groß war, viel großer als ihr winziger Bunker, fand sich darin doch keine Menschenseele. "In unserem Schlafraum steht noch ein drittes Bett, aber es sieht noch vollkommen unbenutzt aus", verkündete Romina, als sie zu Kinga in den Gemeinschaftsraum kam. "Hier lag ein Zettel", erklärte diese. "Wir sollen unter dieser Nummer hier anrufen". Kinga blickte sich in dem Raum um und entdeckt gleich ein uraltes Telefon an der Wand.

   
 
 
 

"Na ob das alte Ding noch funktioniert?". Romina betrachtete den Apparat skeptisch. Aber ein Signal war zu hören. Wählen konnte sie trotzdem nicht. "Du Kinga, da sind gar keine Tasten und auch keine Drehscheibe. Wie soll ich denn da anrufen?" "Hör mal, ob sich jemand meldet", riet Kinga ihr und tatsächlich hörte sie nach wenigen Augenblicken eine Stimme. "Mit wem soll ich verbinden?". Schnell winkte Romina Kinga zu sich und wies sie an, ihr den Zettel zu zeigen. "Verbinden sie mich mit der Nummer...."

 
   
 
 

Romina wartete, dann meldete sich ein Mann. Ohne sich vorzustellen, finge er an zu reden. "Fräulein Gordienko, Fräulein Blech, Sie werden sich um die neuen Studenten kümmern, die wir ihnen in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten vorbei schicken werden. Sorgen sie dafür, dass sie sich hier gut zu Recht finden und machen sie sie mit den hier üblichen Methoden vertraut. Sie entscheiden, wann die Studenten bereit sind, bei ihnen einzuziehen. Kein Wort über "Justice", keine wilden Partys, keine Ausschweifungen. Sie tragen jetzt die Verantwortung. Die ersten Studenten werden noch in dieser Woche eintreffe. Wir verlassen uns auf sie". Und dann legte er auf, ohne dass Romina noch irgendetwas erwidern konnte.

 

 

 

 
   
 

Und bereits im Verlauf der Woche kamen zwei junge Frauen vorbei und standen ratlos vor der Baracke. "Nun, dann machen wir uns mal an die Arbeit", sagte Kinga zu Romina und die beide traten vor die Hütte. Tabea entsprach sowohl von ihrer Kleidung, als auch von ihrem Verhalten her, eher Kinga, deshalb nahm sie sich ihrer an. "Was geht ab? Du bist also neu hier?", sprach sie Tabea direkt an. Romina dagegen versuchte es bei Linda erst einmal auf die höfliche Art.

 
   
 
 

Dumm war nur, dass weder Romina und Kinga genau wussten, was von ihnen erwartet wurde. Wie sollten sie wissen, dass die beiden jungen Frauen bereit waren hier einzuziehen? Ein Gespräch konnte auf alle Fälle nicht schaden, also wurden beide in die Hütte gebeten. Schnell zeigte sich, dass Linda ein eher verschlossener Mensch war, der sich lieber hinter einem Buch versteckte und den Kontakt zu Menschen mied. Damit war sie Romina gar nicht unähnlich, was augenblicklich eine Verbundenheit zwischen den Mädchen erzeugt. Tabea war hingegen sehr redselig.

 
 
 
   

Sie kam ziemlich direkt darauf zu sprechen, wie sie in diesem Lager gelandet war. "Meinen Vater hab ich nie kennengelernt. Wird wohl ein Freier meiner Mutter gewesen sein. Nach meiner Geburt hat sie für eine kurze Zeit aufgehört anzuschaffen, aber der Job als Putzfrau war nix für sie. Also begann sie wieder damit, Männer mit nach Hause zu bringen. Als ich 11 war, hatte ich keinen Bock mehr darauf, meine Mutter jeden Morgen betrunken im Bett vorzufinden und sie wieder aufzupäppeln. Außerdem merkte ich schon damals, dass ihre Freier viel zu viel Interesse an mir zeigten. Also bin ich abgehauen, lebte mal auf der Straße, mal im Heim und mal bei Pflegeltern. Manchmal war‘s gar nicht übel, aber die kamen nie damit klar, dass ich mir nichts sagen ließ und ab und an gerne meine Fäuste sprechen lasse. Tja, und jetzt bin ich hier. Mal schauen, wie lange es mich hier hält".

   
 
 
 

So schnell wirst du hier nicht wegkommen, dachte Kinga, behielt es aber für sich. Sie hatte ja selbst die Erfahrung gemacht, dass man nicht so leicht aus diesem Lager verschwinden konnte. Inzwischen fand sie es aber auch nicht mehr so schlimm hier. Ihre neue Behausung erlaubte ein recht angenehmes Leben und isoliert wurden Romina und sie auch nicht mehr länger, was bedeutete, dass sie sich öfter mal nach dem Unterricht mit irgendwelchen Kommilitonen treffen konnte. Sogar Pizza war plötzlich drin, die ab und an am Haus abgestellt wurde...wenn auch zu unmöglichen Zeiten.

   
 
 

Die Wochen zogen ins Land und immer wieder kamen neue Anwärter vorbei. Heidemarie hatte bereits gehört, dass sie aus ihrer baufälligen Baracke hierher wechseln könne, wenn Kinga sie aufnahm. Allerdings war dieser immer noch nicht klar, was genau ein Bewerber erfüllen musste, um aufgenommen zu werden? Da halfen auch Heidemaries schmeichelnde Worte nicht.

   
   
 

Romina begrüßte derweil einen jungen Mann, der unsicher vor dem Haus auf und ab lief. "Hallo, kann ich dir helfen?", fragte sie ihn und er blickte sie aus großen, verschreckten Augen an. "Ich...ich weiß nicht", stotterte er. "Ich bin so verwirrt. Ich wollte doch nur zum College und das Angebot dieser Frau hörte sich so gut an. Keine Studiengebühren, exzellente Ausbildung. Und jetzt bin ich hier mitten im Wald in Holzhäusern. Ich darf nicht telefonieren, nicht ins Internet. Was denken meine Eltern bloß? Sie machen sich bestimmt furchtbare Sorgen. Ich...ich will hier wieder weg".

 
   
 
 

Er drehte sich um und wollte zurück in den Wald rennen, in die Richtung, aus der er gekommen war. Doch Romina hielt ihn auf. "Deine Eltern sind beruhigt", log sie. "Die Leitung hier hat sie über alles in Kenntnis gesetzt". Natürlich wusste Romina nicht, ob Senora Ewa oder jemand anderes so etwas getan hatte, aber sie ging stark davon aus. Wie sonst sollten sie das Verschwinden eines jungen Mannes verheimlichen können? "Glaub an dich…" Romina stoppte, weil sie den Namen des verängstigten Jungen nicht kannte. "Willi, Willi Kaster!", stellte er sich schnell vor. "Glaub an dich, Willi", Romina gab ihm die Hand, die er lächeln annahm. "Du kannst hier sehr viel lernen. Gib nicht auf".

 

 
 

"Meinst du, wir sollen die Neuen testen, bevor wir sie aufnehmen?", fragte Kinga, als die beiden nachts in ihren Betten lagen. "Kann schon sein", entgegnete Romina. "Wir können es ja ausprobieren". "Gut, dann übernehme ich Heidemarie". "Und ich Willi", flüsterte Romina und wurde dabei ein klein wenig rot im Gesicht.

   

 

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