Kapitel 1
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Und das tat er. Wie erwartet kam Olek am nächsten Tag und neben den üblichen Essensrationen brachte er dieses Mal noch eine weitere Nachricht mit. "Ich werde das Tor heute Abend nicht mehr verschließen. Um dich herum ist nur Wald, selbst wenn du weg laufen würdest, würdest du doch nirgendwo hin können". Kinga wusste, dass er Recht hatte, aber dennoch konnte sie den Gedanken an Flucht kaum zurücdrngen. "Morgen früh nach Sonnenaufgang wirst du der Straße nach Osten folgen. Etwa nach fünf Kilometern triffst du dann auf eine Holzbaracke. Dorthin wirst du ab jetzt jedem Tag gehen". "Und was soll ich dort?", fragte Kinga ihren Bewacher, doch der hob zum Abschied lediglich die Hand und machte sich auf und davon.

 
 
 

Natürlich hatte sie überlegt, einfach in ihrer Zelle zu bleiben. Doch dann hatte die Neugier gesiegt. Und obwohl es in Strömen regnete, machte Kinga sich auf den Weg, der ihr von Olek beschrieben worden war. Fast eine Stunde war sie unterwegs und obwohl sie ohnehin bis auf die Knochen durchnässt war, lief sie die letzten Schritte zur Holzbaracke.

 
 

   
 

Was genau sie im Inneren erwartet hatte, wusste sie selbst nicht, aber ganz sicher war es nicht die Schulklasse, die sie vorfand. Doch endlich traf sie auf Menschen! Nach Wochen der Einsamkeit und nur gelegentlichen Gesprächen mit Olek war dies das Beste, was sie sich vorstellen konnte. "Hi Leute, ich bin Kinga!" stellte sie sich deshalb überschwänglich vor, ohne Rücksicht auf den bereits begonnen Unterricht zu nehmen.

 
   
 
 

"Du bist spät!" antwortet eine Frau um die Vierzig mit starkem osteuropäischem Akzent, die hier die Lehrerin zu sein schien. "Der Unterricht beginnt pünktlich um acht. Es wäre gut - gut für dich - wenn du dir diese Uhrzeit einprägen würdest". Die Drohung, die in ihrer Stimme mitschwang war kaum zu überhören. Kinga schluckte schwer. Die anderen Schüler, alle etwa in ihrem Alter, manche etwas jünger, einige etwas älter, warfen ihr neugierige Blicke zu.

 
 
 
 

Kinga hatte auf irgendeine Erklärung gehofft, was sie hier sollte, warum sie diese seltsame Schule mitten im Wald besuchte? Doch sie wurde erneut enttäusch. Professor Elena, so wurde die rothaarige Frau von ihren Mitstudenten genannt, fuhr unbeirrt in ihrem Unterricht fort. Erst Geschichte, dann Politik, als nächstes Mathematik. Kinga wurden Papier und Stifte gegeben und sie versuchte so gut es ging, dem Frontalunterricht zu folgen. Anders als in ihrer früheren Schule herrschte absolute Ruhe. Kein Getuschel, kein leises Gekicher. Alle Schüler zeigten perfekte Disziplin und lauschten aufmerksam den Worten der Lehrerin.

 
 
 
 

Die erste Pause gab es erst etwa nach vier Stunden. Kingas Kopf rauchte und sie war froh über die Unterbrechung. Außerdem brannte sie darauf, von ihren Mitschülern zu erfahren, wo sie war und was das ganz hier sollte? Rabea und Hajo ließen sich sogleich auf ein Gespräch mit ihr ein, doch leider musste Kinga feststellen, dass sie ihr nicht viel sagen konnten. "Wir sind etwa seit drei Monaten hier. Hin und wieder stößt jemand Neues zu uns, so wie du. Die meisten von uns leben einige Kilometer von hier entfernt zusammen in anderen Baracken", berichtete Rabea.

 
 
   
 

"Und wo kommt ihr her? Wie seid ihr hier gelandet?", fragte Kinga weiter. "Ich war im Knast", antwortete Hajo ohne zu zögern. "Eines Tages kam eine Frau zu mir und erklärte mir, dass ich früher entlassen werde, wenn ich mit ihr gehe. Tja und jetzt bin ich hier. Alles ist besser als Knast, also mache ich brav mit, was hier von mir verlangt wird". Kinga war sichtlich überrascht, auch wenn sie versuchte es so gut es ging zu verbergen. Neugierig, ob diese auch solch eine Geschichte zu berichten wusste, blickte sie Rabea an. "Ich hab auf der Straße gelebt, mich mit ein paar Taschespielertricks über Wasser gehalten. Vor ein paar Monaten kam ein Typ auf mich zu und sagte, dass er mir mehr beibringen könnte. Mit Schulunterricht hab ich zwar nicht gerechnet, aber immerhin hab ich ein Dach überm Kopp. Die anderen hier haben alle ähnliche Geschichten".

 
   
 
 

"Aber warum sind wir hier? Wer ist der verantwortliche? Was wird von uns erwartet?", bedrängte Kinga die beiden mit ihren Fragen. Hajo und Rabea zuckten die Schultern. "Wir machen einfach das, was man uns sagt. So machen wir uns keine Schwierigkeiten", antwortete Hajo. "Du hast wahrscheinlich selbst schon gemerkt, dass dir zu viel Fragen oder gar Widerstand nur Ärger einbringen. Wenn es so weit ist, werden wir schon erfahren, was wir hier sollen und bis dahin machen wir einfach das Beste aus der Situation."
 
 

 

 

 
 

 
 

Die Pause dauerte nicht lang. Verärgert stellte Kinga fest, dass sie nicht daran gedachte hatte, etwas zu Essen mit zu nehmen. Immerhin gaben ihr Hajo und Rabea etwas von sich ab, aber zum satt werden reichte das lange nicht. Am Nachmittag ging es dann mit Unterricht in Simlisch, Wirtschaft und Erdkunde weiter. Gegen sechs Uhr wurde der Unterricht beendet und Kinga machte sich mit knurrendem Magen auf den Weg zurück zu ihrer Behausung. Noch einmal würde sie das Essen nicht vergessen. Sie blätterte noch etwas in dem Schulbuch herum, dass sie bekommen hatte, doch erschöpft vom langen Unterricht und dem anstrengenden Fußmarsch, fielen ihre Augen bald zu. Ihre Kraft reicht nicht einmal mehr für hasserfüllte Gedanken an ihre Mutter.

   
 

 
 

Zu Beginn stellte der tägliche Unterricht eine willkommene Abwechslung von Kingas bisherigen tristen Tagen in ihrer Beton-Zelle dar. Das Lernen fiel ihr nicht schwer und sie hatte innerhalb kürzester Zeit alles aufgeholt, was ihre Mitstudenten ihr voraus hatten. Dennoch wurde sie von Prof. Elena weiterhin sehr kritisch beobachtet, zumindest erschien es Kinga so. Aber all zu schnell begann sie das Lernen zu langweilen und ihre Gedanken schweiften ab zu ihrer Clique in Sierra Simlone Stadt. Was Alex und Farina jetzt wohl machten? "Sicherlich haben sie jetzt mehr Spaß als ich und versauern nicht in einem öden Klassenzimmer", dachte sie und schnaufte verächtlich.

 
   

 
 

Verstohlen blickte sie sich im Klassenzimmer um und betrachtete die anderen Schüler. Es war doch nicht möglich, dass die den ganzen Tag nur lernten. In der Pause nahm sie Hajo, mit dem sie sich in den letzten Wochen recht gut angefreundet hatte, beiseite. "Nun verrat es mir schon, wo steigen hier die Partys? Ich nehme euch das brave Klosterschüler-Getue nicht länger ab."

 

 

Zunächst druckste Hajo herum und wollte nichts verraten. Kinga wurde schon sauer bis sie bemerkte, dass er lediglich darauf wartete, dass die anderen Mitschüler den Raum verließen. Als sie endlich alleine waren, packte er aus. "Rabea, ich und noch ein paar andere treffen uns gelegentlich auf einer Lichtung im Wald. Wenn man weiß wie, dann kann man die Aufpasser schon mal dazu bewegen, dass sie die ein oder andere Flasche Schnaps einschmuggeln und nicht so genau hinsehen, ob wirklich alle in ihren Bettchen liegen. In zwei Tagen ist es wieder soweit. Wenn du Lust hast, kannst du dich uns anschließen". Hajo brauchte nicht ein zweites Mal zu fragen. "Pass nur auf, dass dir niemand folgt", warnte er sie und erklärte ihr dann den Weg zur Lichtung.

   
 

 

 

 
   


 
 

Kinga konnte das Warten kaum ertragen. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn sie noch am gleichen Abend die Sau raus gelassen hätten. Zu lange hatte sie nicht mehr gefeiert und sich ordentlich gehen lassen. Als sie dann aber alleine durch den dunklen Wald schritt, ließ ihre Begeisterung deutlich nach. Allerdings dauerte dies auch nur so lange an, bis sie den Schein eines Feuers und ein ausgelassenes Stimmengewirr wahrnahm. Und gleich darauf entdeckte sie auch schon Hajo zwischen den Bäumen.

 
 

 
   

"Da bist du ja, King", rief er ihr zu. "Komm, setz dich zu uns ans Lagerfeuer". Kinga kam näher und entdeckte auch gleich Rabea. Einige der anderen kannte sie aus dem Unterricht, aber nicht alle. Das erstaunte sie etwas, denn bis jetzt hatte sie gedacht, dass alle Leute, die es in diesen seltsamen, geheimnisvollen Wald verschlagen hatte, auch an den Lehrübungen teilnehmen mussten. Womöglich gab es ja mehr als eine Lehrbarake?

   
 

 
 

Sie unterhielten sich eine Weile, bis Bert, der unbekannt mit den blauen Haaren, plötzlich aufstand. "Ich hohle mir 'nen Drink. Will sonst noch jemand?". Kinga fiel wieder ein, dass Hajo Alkohol erwähnt hatte. Sie hatte in den letzten Wochen kaum noch an Alkohol, Gras oder gar Crystal Meth gedacht, aber plötzlich erinnerte sie sich wieder, wie gut sich diese berauschende Gefühl doch anfühlte und so folgte sie Bert und auch Hajo zu einer hochkant aufgestellten Holkiste, die als Bar fungierte und eine interessante Auswahl an alkoholischen Getränken beherbergte. Bert reichte ihr ein gefülltes Glas und Kinga nahm hastig einen tiefen Schluck. "Also so", dachte sie, "kann ich auch noch länger in diesem gottverlassenen Wald bleiben".

   

 
 

Dem ersten Drink folgte ein zweiter und auch der dritte ließ nicht lange auf sich warten. "Hey, King, lass es doch ein wenig langsamer angehen, die Nacht ist noch jung", ermahnte sie Hajo freundschaftlich und führte sie von der Bar weg. Etwas abseits von der Gruppe ließen sie sich nieder. "Was starrst du denn so?", fragte Kinga unfreundlich, als Hajo nicht aufhörte, sie zu mustern. "Ich stelle einfach nur fest, wie schön du bist, dass ist alles", erwiderte er grinsend. Kinga war froh, dass es so dunkel war, denn unweigerlich röteten sich ihre Wangen. Aber das brauchte Hajo nicht zu wissen.

   
   
 

Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, beugte er sich zu ihr hinüber und küsste sie. Bis zu diesem Augenblick hatte Kinga in Hajo nie mehr als einen Freund gesehen. Und der Alkohol verhinderte, dass sie sich in diesem Moment darüber Gedanken machen konnte. Und deshalb ließ sie es einfach geschehen. Sie hatte es vermisst, geküsst zu werden und obwohl Hajos Drei-Tage-Bart kratzte, empfand sie das alles andere als unangenehm. Oh ja, die körperliche Zuneigung eines Mannes hatte sie wohl am meisten vermisst.

 
   
 
 
 

 
 

   

 

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