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Ich versprach Gerda, weiterhin auf die Kinder aufzupassen, bis sie und Albert es wieder selbst machen konnten. Als die vier Kinder dann auch wieder in das Krankenzimmer zurückkehrten, verzog ich mich diskret. Ich setzte mich in den Flur und beobachtete Kinga, die von einer der Krankenschwestern ein Spielzeug zum Seifenblasen machen geschenkt bekommen hatte und sich damit vergnügte. Doch dann wuchs der Wunsch in mir, Albert zu sehen.


Seit dem Tag der Not-OP hatte ich ihn nicht mehr gesehen. In den letzten Tagen durfte niemand zu ihm und ich rechnete auch heute damit. Doch die Schwester ließ mich einfach in das Krankenzimmer. Es war ganz still im Raum. Nur das gleichmäßige Geräusch der lebenserhaltenden Maschinen war zu hören. Nach der OP musste Albert in ein künstliches Koma versetzt werden und dieses wurde immer noch aufrechterhalten. Als ich ihn so vor mir liegen sah, spürte ich all die Liebe, die ich für ihn empfand und das Einzige, was ich mir wünschte war, dass er bald wieder aufwachen würde. "Ihr Mann wird bald wieder gesund werden, Frau Kappe." Erschrocken drehte ich mich um. Ich hatte nicht bemerkt, dass Dr. Neopold Mycin in das Zimmer gekommen war. "In drei oder vier Tagen können wir das künstliche Koma aufheben und dann sollte ihr Mann wieder zu sich kommen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Er wird bald wieder bei ihnen und ihren fünf Kindern sein können."


Frau Kappe! Diese Worte klangen wundervoll in meinen Ohren und ich hoffte, dass sie bald Wirklichkeit werden würden. Dr. Mycin hatte mich hier fast jeden Tag mit den Kindern gesehen und ich habe mich immer wieder besorgt nach Albert erkundigt. Es wunderte mich nicht, dass er mich für seine Frau hielt. Ich beugte mich zu Albert hinab und küsste ihn vorsichtig auf die Lippen und strich ihm sanft über das Haar. "Werde schnell wieder wach, Liebling", flüsterte ich ihm zu. "Ohne dich fühlt mein Leben sich so leer an."

 

 


Mit dem Erwachen ihrer Mutter, veränderten sich Alberts Kinder sichtlich. Es schien, als ob eine schwere Last von ihren Herzen gefallen wäre. Endlich schien es Hoffnung zu geben. Gerda war immer noch schwach, aber sie schien mit jeder Stunde kräftiger zu werden. Und die Ärzte bescheinigten, dass sie Alberts künstliches Koma bald aufheben konnten und er wieder zu sich kommen würde. Und deshalb hörte man wieder Kinderlachen auf Norman. Und dass ich ständig Federn aufsammeln musste, war ein Übel, das ich gerne in Kauf nahm.


Kinga und Elvira verbrachten noch immer ihre komplette Zeit miteinander. Und je öfter ich die beiden beobachtete, desto mehr wurde mir bewusst, wie ähnlich sich die beiden eigentlich waren. Und dabei ging es nicht nur um ihren Charakter, der sich ebenfalls stark glich. Nein, mir wurde schlagartig bewusst, dass die beiden sich auch äußerlich erschreckend ähnelten. Wäre Elvira brünett oder King blond, dann hätte niemand nur den geringsten Zweifel gehegt, dass die beiden Schwestern waren.


Als mir dies Bewusst wurde, stieg die Angst in mir auf. Was wenn bereits jeder sehen konnte, dass Kinga und Elvira sich erstaunlich ähnlich sahen? Ich hoffte zwar inständig, dass ich mir die Ähnlichkeit nur einredete, aber ganz von der Hand konnte ich sie nicht weisen.


In der Badewanne wollte ich mich eigentlich entspannen, doch es trat genau das Gegenteil ein. Dank des warmen Wassers und des angenehm duftenden Badeöls entspannte mein müder Körper sich tatsächlich, aber gleichzeitig wurden auch meine Gedanken so klar, dass Probleme sichtbar wurden, von denen ich noch nichts geahnt hatte. Würde Albert Gerda jetzt noch verlassen? In ihrem Zustand? Sie war gelähmt und würde nie wieder laufen können. Durfte ich überhaupt zulassen, dass er seine Ehefrau in solch einer Situation alleine ließ? Alles Christliche in mir schrie "Nein" und mein Herz war nicht imstande gegen dieses Geschrei anzukommen, so sehr es sich auch bemühte.


Ich würde keine gemeinsame Zukunft mit Albert haben, das wurde mir in diesem Moment bewusst. Er würde Gerda nicht verlassen können. Er durfte es nicht einmal. Nicht wegen mir! Bei seinem Ehegelübde hatte er einen Schwur abgelegt, für sie da zu sein, in guten und vor allem in schweren Zeiten. Und genau solche schweren Zeiten standen den beiden nun bevor. Ich könnte keinen Mann lieben, der seine Frau in solch einer Situation im Stich ließ. Dieser Erkenntnis tat weh. Sie tat furchtbar weh. Aber eine andere Möglichkeit blieb mir nicht. Mit einer anderen Entscheidung hätte ich nicht leben können.


Ich wollte stark sein. Ich wollte an meine Entscheidung glauben und sie voller Würde hinnehmen. Aber als ich den Stopfen in der Badewanne zog und das abfließende Wasser beobachtete, war es so, als ob mein letzter Rest Stärke mit in die Dunkelheit der Kanalisation gerissen würde. Und ich brach in Tränen aus, unfähig, sie wieder zu stoppen, weil ich nicht wusste, ob ich jemals stark genug sein würde, mit meiner Entscheidung zu leben.


Ich schreckte auf, als ich das Bad verließ und Hans am Esstisch saß und gerade einen Hamburger aß. Ich hatte geglaubt, dass bis auf die Kleinen niemand im Haus sei, aber da hatte ich mich wohl geirrt. Ich wischte noch schnell die letzten Tränen aus meinen Augenwinkeln, holte mir ebenfalls einen Burger und setzte mich zu Hans an den Tisch. Doch mehr als einen lustlosen Bissen brachte ich nicht hinunter. "Ist alles in Ordnung bei dir, Oxana", fragte Hans schließlich vorsichtig. "Ich habe dich eben im Badezimmer gehört und du…du hast geweint." Ihm war es sichtlich unangenehm, mich darauf anzusprechen. Ich wollte seine Besorgnis schnell wegwischen und ihm erzählen, dass alles in bester Ordnung wäre und er sich nur verhört hätte. Doch ich brachte kein Wort heraus. Stattdessen hob ich hilflos meine Hände und wieder füllten sich meine Augen mit Tränen.


"Es ist in Ordnung, wenn du weinst, Oxana. Du warst die ganzen letzten Tage für uns da und das war sicher nicht leicht für dich. Mama ist deine beste Freundin. Da ist es doch klar, dass du dir Sorgen um sie machst. In den letzten Tagen waren wir nur mit unseren eigenen Ängsten beschäftigt und haben gar nicht bemerkt, dass auch du Angst hattest. Aber jetzt wird alles wieder gut. Gott muss auf Mama und Papa aufgepasst haben, als sie die Klippe herunter gestürzt sind und es trotzdem überlebten. Und er wird auch weiterhin auf die beiden aufpassen. Und Mira, Mona, Elli und ich können wieder selbst auf uns Acht geben. Wir möchten zwar weiterhin, dass du bei uns bleibst, aber du musst uns nicht jede Last abnehmen."


Seine Worte waren tröstlich für mich. Zwar ahnte Hans nicht im Geringsten, weswegen ich eigentlich geweint hatte, aber durch seine Worte wurde mir etwas bewusst: Gerda war meine beste Freundin. Und egal was ich für ihren Mann auch empfand, jetzt musste ich für sie da sein. Sie brauchte meine Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen. Auf dieses Ziel musste ich mich jetzt konzentrieren.

 

 


Da es ihrer Mutter wirklich von Tag zu Tag besser ging, kehrten auch die vier Kinder zu ihrem normalen Tagesrhythmus zurück. Ich half Hans bei der Arbeit auf der Farm, Kinga und Elvira spielten miteinander und Miranda verbrachte viel Zeit mit Lernen, da für sie das Abitur kurz bevorstand.
Desdemona hingegen trainierte ständig in ihrer Freizeit. Mir war nie bewusst gewesen, wie sehr sie sich für Sport interessierte. Sie kam meistens erst später von der Schule, da sie nachmittags noch zum Fußball-Training musste. Und wenn sie dann doch zuhause war, dann machte sie erst ihre Hausaufgaben und ging, sobald die Sonne etwas tiefer stand, hinaus ins Freie um noch etwas für ihre Kondition zu tun.


Ich hatte mich oft gefragt, für wenn diese Fitness-Sendungen im Fernsehen liefen. Ich hatte noch die das Bedürfnis verspürt, lustig vor dem Empfangsgerät auf und ab zu hüpfen. Doch Desdemona sah das anders und trainierte oft bis spät in den Abend. Ihr Ziel war es nun einmal, eine großartige Sportlerin zu werden. Und dafür tat sie alles, was nötig war. Und es konnte auch nicht schaden, sich früh in den Sportklubs der Stadt umzusehen. Auch wenn sie noch zu jung war, um aktiv in die Profi-Mannschaften aufgenommen zu werden, so konnte sie sich wenigstens durch ihre Hilfsarbeit in das Gedächtnis der Trainer brennen.


Hans beeindruckte mich mit dem Eifer, den er bei der Farmarbeit an den Tag legte. Solange wie ich hier war, hatte er sich noch nie beschwert, dass er morgens früh raus musste, um sich um die Schweine zu kümmern, noch bevor er zur Schule ging. Und wenn er dann von der Schule kam, dann stand oft noch Arbeit auf dem Feld an, bevor wir Abends dann gemeinsam nach Seda Azul fuhren, um Gerda und Albert im Krankenhaus zu besuchen.


Ansonsten verbrachte er viel Zeit mit seinem Schulfreund Mika. Die beiden trafen sich entweder bei Hans zuhause oder sie gingen rüber zu der Farm von Mikas Eltern, die etwas weiter außerhalb lag. "Wir brauchen mal Ruhe von den blöden Hühnern hier", erklärte er dann immer und zeigte dabei auf seine beiden jüngeren Schwestern Desdemona und Elvira. Bei Miranda hätte er sich so ein Verhalten nie erlaubt. Sie war immerhin die älteste im Haus und hatte ihren Geschwistern auch früh klar gemacht, wer das Sagen im Hause Kappe hatte.

 

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kor. 01.11.2010