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Die Kinder waren inzwischen alle aus der Schule wieder zurück. Ein paar Schulfreunde waren gleich mit ausgestiegen und deren Gesellschaft tat Miranda, Hans und Desdemona richtig gut. Für einen Moment konnten sie vergessen, welches tragische Schicksal ihren Eltern widerfahren war. Auch Kingas Onkel Kevin war da. Er war Dominiks jüngster Bruder und gerade einmal drei Jahre älter als Kinga. Kinga möchte ihn eigentlich sehr gerne und die beiden spielten oft zusammen mit Constanze und Dominiks kleiner Schwester Kira drüben in der Simlane. Doch mit Elvira im Puppenhaus zu spielen war einfach noch spannender und dazu hatte der blonde Junge nun wirklich keine Lust.


Viel Gelegenheit dazu blieb ihm ohnehin nicht. Glinda warf mir noch einige Male unterschwellig vor, dass ich Dominik vernachlässigen würde und meine Entschuldigung, dass ich die Kinder von Albert und Gerda in dieser Situation nicht alleine lassen könne, schmetterte sie mit den Worten "Wozu haben mir den das Amt für Jugend und Familie" ab. Damit war für sie alles geklärt. Sie ging in das Kinderzimmer, verabschiedete sich von ihrer Enkelin und nahm dann ihren jüngsten Sohn mit, der doch viel lieber noch bei den anderen Kindern geblieben wäre.

 

 


Doch für mich war dieser Besuch zu viel gewesen. All die Jahre hatte ich Glindas Sticheleien über mich ergehen lassen, weil sie ja eigentlich Recht hatte. Ich war nicht gut genug für Dominik, denn ich liebte ihn nicht. Nicht so, wie er mich liebte. Aber ich fühlte mich deswegen schon schlecht genug, auch ohne dass sie mir deswegen immer wieder Vorwürfe machte. Als Albert mir in dem Motel in Ganado Alegro verkündete, dass er Gerda für mich verlassen würde, war ich so glücklich gewesen, denn endlich hätte meine Heuchelei Dominik gegenüber aufgehört und ich wäre mit Albert glücklich geworden. Und jetzt war alles nur noch furchtbar.


Und ich schaffte es nicht mehr, dieser düsteren Stimmung zu entkommen. In jedem Augenblick, in dem ich nicht beschäftigt war, überwältigte mich meine Angst um Albert, mein schlechtes Gewissen Dominik gegenüber und die Ungewissheit über meine Zukunft. Nachts konnte ich kaum schlafen und am Tag musste ich mich zusammenreisen, um vor den Kindern nicht in Tränen auszubrechen. Das letzte, was sie gebrauchen konnten, war eine Aufsicht, die selber nicht mehr weiter wusste.


Und gerade in einem meiner schwachen Momente bemerkte ich Dominik im Schatten der großen Weide vor dem Haus der Kappes. Verwundert ging ich hinaus und versuchte mir die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. "Du siehst aber ganz schön beschissen aus, Brodlowska", bemerkte er spöttisch. Diese Bemerkung brachte ihm einen sanften Hieb gegen seine Schulter ein, aber immerhin brachte er mich damit zum Lachen. "Ist irgendetwas passiert?", hakte er nun viel einfühlsamer nach. "Geht es Albert und Gerda, der alten Schabracke, etwa schlechter?" Ich wischte meine Nase an meinem Arm ab, da ich einfach kein Taschentuch griffbereit hatte und erklärte ihm dann, dass der Zustand der beiden nun schon seit Tagen unverändert blieb.


"Du musst hier unbedingt mal raus, Brodlowska. Komm lass uns mal wieder ausgehen", schlug er deshalb vor. "Ein nettes Essen im Restaurant und dann sehen wir mal weiter. Alberts vier Blagen werden auch mal ein paar Stunden ohne dich auskommen. Und im Notfall ist unsere Kinga ja auch noch da. Die wird denen schon zeigen, wo es lang geht." Er wartete meine Antwort gar nicht erst ab, sondern schnappte sich meine Hand und führte mich zu dem ruhigen, vornehmen Lokal im Stadtkern von Sierra Simlone Stadt.


Die Empfangsdame führte uns zu einem netten Tisch im klimatisierten Inneren des Restaurants. Die Plätze auf der Terrasse waren zwar auch sehr schön, aber selbst im Schatten des Baldachins wurde es draußen wider unerträglich heiß. Dabei hatten wir gerade erst Frühling. Der Sommer würde bestimmt wieder unerträglich werden. Eine Kellnerin brauchte uns die Speisekarte und nahm wenig später unsere Bestellung entgegen.


"Danke, dass du vorbeigekommen bist, Dominik", erklärte ich aufrichtig, nachdem wir einige Minuten schweigend unser Essen genossen hatten. "Mutter war gestern bei mir und erzählte, dass sie bei dir war. Als ich das hörte, wusste ich sofort, dass du eine Aufmunterung gebrauchen kannst. Ma ist ein wenig überfürsorglich, wenn es um das Wohl ihres "Nicky" geht." Dominik lachte. "Aber egal, was sie auch gesagt hat, nimm es dir nicht zu sehr zu Herzen. Ich habe ihr gleich erklärt, dass Gerda deine beste Freundin ist und du ihre Kinder einfach nicht im Stich lassen kannst. Ein anderes Verhalten von dir hätte mich ehrlich gesagt auch fast enttäuscht."


"Und was Gerda angeht, da mach dir bloß keinen Kopf. Die ist zäh wie ein Stück Leder und wird uns noch alle überleben. Du wirst es sehen." Er grinste über das ganze Gesicht. "Und Albert muss ohnehin der widerstandsfähigste Mann sein, den ich kenne. Mal von Gerda abgesehen, die vier Blagen müssen ihn doch den letzten Nerv kosten. Du bist gerade einmal ein paar Tage dort und deine Augenringe sind jetzt schon so dick wie die Schamlippen einer Elefantenkuh. Und er muss das Ganze schon seit fast 20 Jahren ertragen. Da wird ihm ein kleines Hirn-Aneurysma auch nichts anhaben können."


Er fragte mich intensiv darüber aus, was Kinga den ganzen Tag so machte. Er telefonierte zwar regelmäßig mit seiner kleinen Prinzessin, aber gesehen hatte er sie die letzten Tage kaum. Solange ich bei Alberts Kindern war, musste er meine Arbeit auf unserer Farm mit übernehmen. Nach dem Essen gingen wir noch hinüber in den Pink Lips Club zum Billard spielen. Seit unserer ersten Verabredung war Billard eine der Aktivitäten, die ich wirklich gerne mit Dominik unternahm, doch heute konnte ich keinen Spaß an dem Spiel finden. Dabei bemühte Dominik sich wirklich sehr um mich, aber eben auf seine eher schroffe Art.


"Es hilft wohl alles nichts", schüttelte er den Kopf, als meine Laune sich noch immer nicht besserte. Also schnappte er mich erneut an der Hand und schleifte mich hoch zur Bar. "Mix uns mal etwas Nettes zusammen, Barkeeper. Und für die Dame hier, sollte es etwas besonders starkes werden." Meine Proteste, dass ich im Moment lieber nichts trinken sollte, wischte er mit einer Handbewegung beiseite und prompt standen zwei Long Island Icetea auf der Theke.


Es blieb nicht bei diesem einen Long Island. Und Dominik behielt Recht, denn bereits nach kurzer Zeit vergaß ich meine Ängste und Sorgen und konnte unbeschwert mit ihm lachen und Spaß haben. Doch Long Island Iceteas führen bei mir leider viel zu oft zu vollkommen unbedachten Handlungen. Denn als Dominik mich wieder am Haus der Kappes absetzte, schnappte diesmal ich seine Hand und führte ihn in das Schlafzimmer. Er genoss es sichtlich. Dieser Hauch vom Verbotenen, mit mir im Bett eines anderen Ehepaares zu schlafen machte ihn ganz wild. Und ich genoss jede Sekunde davon, denn in diesem Augenblick fühlte ich mich in seinen Armen so geborgen wie selten zuvor.


Eng aneinander geschmiegt lagen wir noch eine Weile im Bett, wobei ich aufgrund des Schlafmangels und sicherlich auch wegen des Alkohols schnell einschlief. Ich bekam es kaum mit, als Dominik aufstand und sich mit einem Kuss auf meine Stirn von mir verabschiedete. "Ich gehe lieber, bevor die Kinder aus der Schule kommen. Ich hoffe, du kommst bald wieder nach Hause, Brodlowska." Ich murmelte etwas Unverständliches und schlief einfach weiter. Dominik zog sich wieder an und kehrte gut gelaunt in die Simlane zurück.

 

 


Kurz darauf rief Roland mit einer wunderbaren Nachricht an. Gerda war aufgewacht!
Ich ließ Miranda fahren. Nach den Drinks die ich intus hatte, wollte ich lieber nicht selbst am Steuer sitzen. Noch ein Unfall war das Letzte, was wir gebrauchen konnten. Die Kinder Stürmten sofort zum Zimmer ihrer Mutter, allen voran Elvira. Sie hat den Ernst der Lage vielleicht nie begriffen, ihre Mama hatte sie trotzdem vermisst. Als Gerda ihre Rasselbande auf sich zustürmen sah, zeichnete sich ein zartes Lächeln auf ihrem müden Gesicht ab.


"Mama, wie geht es dir?". "Wir haben dich ja so schrecklich vermisst." "Tut dir irgendetwas weh?" Die vier Kinder redeten alle durcheinander, so dass man kaum etwas verstehen konnte. Aber Gerda genoss den Trubel sichtlich. Sie war sogar so sehr gerührt, dass eine dicke Träne die Wangen herunter kullerte. Sie war selbst kaum in der Lage irgendetwas zu sagen, aber sie lauschte glücklich den Erzählungen ihrer vier Kinder. Ich hielt mich derweil im Hintergrund. Bei so einem intimen Moment wollte ich nicht stören.


Die Kinder blieben Stunden bei ihrer Mutter und inzwischen war auch schon die Sonne im Meer versunken. "Wollt ihr nicht langsam etwas essen, Kinder?", fragte Gerda mit heiserer Stimme und da erst bemerkten die Vier, dass sie seit heute Mittag noch nichts gegessen hatten. Ich wollte auch gehen, doch Gerda winkte mich zu sich herüber. "Ich bin dir so dankbar, dass du auf meine Kinder Acht gibst, Oxana. Du bist eine wahre Freundin." Ich lächelte dankbar, doch innerlich starb ich vor Scham. Ob Gerda mich noch immer als ihre Freundin bezeichnen würde, wenn sie von mir und Albert wüsste? Ich bezweifelte es.


Doch dann wurde auch ihr Gesicht ernster. "Was ist mit meinen Beinen, Oxana?" Ich blickte erschrocken auf und das verriet Gerda, dass ich irgendetwas wusste. "Ich kann sie nicht spüren, Oxana. Es ist so, als ob sie gar nicht da wären. Ich habe den Arzt gefragt, doch er wollte mir nichts sagen. Ich bin gelähmt, nicht wahr?" Ich überlegte, was ich ihr antworten sollte, aber schließlich entschied ich mich, ihr alles zu sagen, was ich wusste. Früher oder später würde sie es ohnehin erfahren.


Als Gerda meine Bestätigung hörte, starte sie nur wortlos die Krankenhausdecke an. Es erstaunte mich, wie gefasst sie wirkte, fast so, als ob sie ihr schweres Los bereits akzeptieren hätte. Und trotzdem versuchte ich sie aufzumuntern. "Roland war sich bei seiner Diagnose nicht vollkommen sicher, Gerda. Die Ärzte müssen dich noch weiter untersuchen. Vielleicht können sie ja noch irgendetwas für dich tun. Die Medizin kann heute wahre Wunder vollbringen." Ich wusste selbst, dass meine Worte hohl klangen, aber es tat mir weh mit anzusehen, wie sie sich einfach ihrem Schicksal fügte, ohne auch nur das geringste Anzeichen einer Hoffnung zu zeigen.

 

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kor. 01.11.2010