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Von Tante Sylvia erfuhr ich den genauen Zeitpunkt der Beisetzung.
Ich machte mich schon sehr früh auf den Weg zur Kirche, doch
blieb ich draußen stehen und versteckte mich hinter einem
Rosenbusch. Ich wollte nicht, dass mich jemand sah. Ich wollte
nicht, dass Dad mich sah. Das einzige was ich wollt, war es Paps
Beerdigung beizuwohnen und dann wieder nach Sierra Simlone Stadt
zu entschwinden. Und dann sah ich sie kommen, die Trauergäste,
meine Familie.
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Ich wartete, bis alle das Innere der Kirche betreten hatten und
setzte mich dann unauffällig in die letzte Bank. Es war wirklich
nur die engste Familie anwesend. Meine Schwester Joanna und ihr
Mann Tobias, meine Großmutter Stasia und Paps Schwester
Kasia. Es überraschte mich ein wenig, dass Lex Ehrmann, der
Anwalt meiner Familie hier war. Ihn und Paps verband eine ganze
besondere Beziehung. Ich hatte mir so oft gewünscht, dass
Paps Dad verlassen und mit Lex glücklich werden würde.
Doch Paps konnte sich nicht von Dad loslösen. Bis zum Schluss
nicht. Neben Lex saß eine Frau, die ich nicht kannte. Als
ich meinen kleinen Bruder Orion in der ersten Reihe erkannte,
musste ich unweigerlich anfangen zu schluchzen. Wie gerne hätte
ich ihn jetzt in die Arme geschlossen. Und dann war da noch Dad!
Und bei seinem Anblick, hätte ich am liebsten die Kirche
wieder verlassen.
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Doch natürlich blieb ich sitzen. Der Gottesdienst war schön.
Er war wirklich schön. Es war alles so, wie Paps es sich
gewünscht hätte. Die Musik, die ausgewählten Gebete.
Als ich den Sarg sah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Paps
darin liegen sollte. Es war alles so unwirklich. Ich weinte, weil
mir schmerzlich bewusst wurde, dass ich ihn nie wieder sehen würde.
Und ich weinte, weil ich glücklich war, denn hier im Hause
Gottes spürte ich, das seine Seele nun bei unserem Herrn
war.
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Kurz bevor der Gottesdienst endete, schlich ich mich hinaus, um
nicht gesehen zu werden. Dad, Tobias, Lex und der Pfarrer trugen
gemeinsam den Sarg aus der Kirche und der Rest der Trauergäste
folgte ihnen zum Friedhof, der direkt hinter der Kirche lag. Dann
wurde der Sarg langsam in die Vertiefung hinabgelassen. Ich beobachtete
die Szene weinend aus dem Hintergrund. "Möge der Herr
ihn bei sich aufnehmen", endete der Priester schließlich
sein Gebet. Er beugt sich hinunter, nahm eine Handvoll Erde und
warf sie auf den Sarg. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich
hören, wie meine Großmutter zu schluchzen begann und
von meiner Tante getröstet wurde.
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Einer nach dem anderen ging nun zum Sarg, und warf Erde in das
Grab hinunter, um so endgültig Abschied zu nehmen. Wenn alle
anderen gegangen wären, dann würde auch ich zum Grab
gehen und mich von Paps verabschieden. Doch plötzlich riss
ein lautes Rufen mich aus meinen Gedanken: "Da ist Xana,
da hinten steht Xana!". Entsetzt sah ich, wie mein kleiner
Bruder Orion auf mich zugelaufen kam und sich die Blicke meiner
gesamten Familie auf mich richteten.
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Orion lief so schnell seien kurzen Beine es zuließen und
fiel mir um den Hals. "Endlich bist du wieder zurück,
Xana. Endlich bist du wieder da". Und auch ich drückte
meinen kleinen Bruder so fest ich konnte. "Ich wusste, dass
du heute kommen würdest", flüsterte er mir ins
Ohr. "Ich wusste, dass du Paps noch einmal auf Wiedersehen
sagen würdest."
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Jetzt konnte ich mich nicht mehr länger verstecken. Orion
fasste mich an der Hand und zog mich zu den restlichen Trauergästen.
Da kam auch schon Joanna auf mich zugelaufen. "Xana! Ich
hab mir so sehr gewünscht, dass du heute kommen würdest!
Ich hab mir so sehr gewünscht, dich widerzusehen. Ich hab
dich so sehr vermisst". Ihr Gesicht war tränenüberlaufen,
ebenso wie meins. "Ich hab dich auch vermisst", gestand
ich ihr ehrlich. "Aber ich wünschte, ich wäre aus
einem anderen Grund hier."
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"Wie kannst du es wagen, heute hier aufzutauchen!",
schrie Dad und kam auf mich zugestürmt. Ich konnte seine
Alkoholfahne augenblicklich riechen. Im Hintergrund sah ich, wie
Großmutter begann, hemmungslos zu weinen. Und daran war
nur er schuld. " Wie kannst du es wagen, hier auf seiner
Beerdigung aufzutauchen, nach allem, was du ihm angetan hast?!",
brüllte Dad mich weiter an. "Er hat so oft versucht
dich anzurufen! Er hat dir so viele Briefe geschrieben! Er wollte
dich nur noch ein einziges Mal sehen, bevor er starb, aber du
warst so selbstsüchtig und hast ihm diesen Wunsch nicht erfüllt.
Weißt du, wie oft er, sich vor Schmerzen windend, deinen
Namen gerufen hat? Aber du bist nicht gekommen! Und jetzt erdreistest
du dich auf seiner Beerdigung zu erscheinen?!"
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Seine Worte trafen mich mitten ins Herz. Ich versuchte irgendetwas
zu sagen, doch aus meinem aufgerissenen Mund kam kein Ton. Hatte
Paps wegen mir wirklich so sehr gelitten? Es stimmte, er hatte
immer wieder versucht, sich mit mir auszusprechen, doch ich hatte
es jedes Mal abgelehnt. Aber wie hätte ich ahnen können,
dass es ihm so schlecht ging? Doch das war keine Entschuldigung.
Er war sterbenskrank gewesen und ich habe es abgelehnt mit ihm
zu sprechen! Was war ich bloß für eine Tochter?
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Doch dann schoss mir ein anderer Gedanke durch den Kopf: Was war
Dad denn für ein Vater, dass er mir solch einen Vorwurf machen
konnte? "Nein, Dad, du wirst mir jetzt nicht die Schuld geben",
entgegnete ich entschieden. "Du hast mich aus dem Haus geworfen!
Das warst du ganz allein und ich hatte nichts Falsches gemacht.
Ich wollte Paps beschützen! Vor dir beschützen, weil
er nicht gemerkt hat, was für ein verdammter Mistkerl du
bist. Und ich habe jedes Recht bei seiner Beerdigung dabei zu
sein! Ich habe Paps geliebt, aber du weißt ja nicht einmal,
was dieses Wort bedeutet".
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Ich dachte er würde mir gleich mit seiner geballten Faust
ins Gesicht schlagen. "Hört auf, alle beide!",
schrie Joanna dazwischen. Sie war total aufgelöst. "Könnt
ihr nicht einmal an Paps Beerdigung für einen Moment Frieden
schließen? Dieser Tag ist schon schlimm genug, aber mit
euren Streitereien macht ihr es nur noch viel schlimmer".
Sie begann heftig zu weinen, doch Dad und ich starrten uns nur
gegenseitig hasserfüllt an.
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"Ich werde ihm niemals verzeihen", zischte ich zwischen
zusammengekniffenen Lippen. Dann ging ich zum Grab hinüber,
nahm eine Hand voll Erde und warf sie hinunter auf den Sarg. "Ruhe
in Frieden, Paps", flüsterte ich ganz ruhig. Dann erhob
ich mich und ging wütend zwischen meinem Dad und meiner Schwester
hindurch. Dabei stieß ich heftig an Dads Schulter an, doch
das geschah ihm nur recht. Joanna stand nur stumm da und ließ
mich gehen, doch Dad rief mir noch ein letztes, wütendes,
"Lass dich nie wieder hier blicken", hinterher.
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Ich lief direkt zum Haus von Tante Sylvia und Onkel Franky. Ich
hatte vor, direkt wieder in die Sierra Simlone zu fliegen und
all das hinter mir zu lassen, doch Dads Worte ließen mir
keine Ruhe. Hat Paps wirklich so gelitten, weil ich ihn nicht
mehr sehen wollte? War ich wirklich so selbstsüchtig gewesen?
In meinem Koffer lagen seine Briefe. Ich hatte sie mit aus Warschau
genommen und jetzt mit aus Sierra Simlone Stadt, aber ich hatte
sie noch nie geöffnet. Doch jetzt musste ich es. Ich musste
einfach wissen, was Paps mir geschrieben hatte.
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Er entschuldigte sich in jedem einzelnen Brief und bat mich darum,
ihm zu verzeihen. Gott, hätte ich diese Briefe bloß
früher gelesen. Am Abend ging ich noch einmal zu Friedhof.
Das Grab war bereits aufgeschüttet und mit Blumen bedeckt.
"Ich verzeihe dir, Paps", beteuerte ich heiser, als
auch ich einen weiteren Strauß Blumen auf sein Grab legte.
"Ich bin dir nicht mehr böse, dass du zugesehen hast,
wie Dad mich aus dem Haus warf. Und ich hoffe, du kannst mir auch
verzeihen". Ich fing an zu schluchzen. "Bitte, Paps,
verzeih mir!".
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"Willkommen zurück zu Hause, Oxana!". Tristan nahm
mich sofort in den Arm, nachdem ich das Haus betreten hatte. Ich
schaffte es kaum meinen Koffer abzustellen. "Ich bin auch
froh, wieder hier zu sein", entgegnete ich. "Wie lange
war ich weg? Drei, vier Wochen?". "Sechs", antwortete
Roland für mich. "Schön, dass du wieder da bist."
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Auf dem Weg in meine Zimmer bemerkte ich sofort die neuen Bilder.
"Sind die alle von dir?", fragte ich Tristan. "Nein",
gab er ehrlich zu. "Nur das Bild von Roland habe ich selbst
gemacht. Die beiden von uns und das Gruppenbild sind von Roland".
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Nachdem ich mir die Bilder genau angesehen hatte, ging ich weiter.
Ja, sechs Wochen war ich weg gewesen. Zunächst bin ich in
SimCity geblieben. Ich hatte noch so viel, was ich Paps sagen
wollte. In seinen Briefen standen so viele Dinge, die er mir nie
gesagt hatte. Ich wollte einfach in seiner Nähe sein. In
dieser Zeit habe ich aber weder mit meinen Geschwistern, noch
mit Dad geredet. Dann bin ich nach Warschau geflogen, denn meiner
Großmutter ging es nicht gut. Sie brauchte meine Hilfe und
ich...ich brauchte sie auch.
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"Hallo, Schatz". Ich war gerade damit fertig geworden
meine Sachen in den Schrank einzuräumen als Benny in mein
Zimmer kam. Ich hatte so sehr gehofft, dass er nicht kommen würde.
Nicht heute. Er kam auf mich zu und wollte mich küssen. Doch
ich hielt ihn zurück. "Halt, Benny, nicht!"
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Er wurde ganz steif und sah mich verwirrt an. "Oxana, was
ist denn?", fragte er und Unsicherheit schwang in seiner
Stimme mit. Ich wusste, dass ich es ihm nicht schonend beibringen
konnte, also sprach ich es einfach aus: "Wir sollten uns
trennen, Benny. Das ist mir in den letzten sechs Wochen klar geworden."
"Aber, Oxana, was redest du denn da?", unterbrach er
mich entsetzt. "Ich liebe dich doch. Und du liebst mich doch
auch."
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"Liebe ist manchmal nicht genug", lautete meine
nüchterne Antwort. "Mein Vater hat meinen Dad
geliebt, und trotzdem wurde er von ihm verletzt. Und mein
Dad? Ich glaube auf irgendeine kranke Art hat er Paps
auch geliebt und trotzdem war er der Grund, dass es Paps
sein Leben lang dreckig ging. Und das will ich nicht Benny.
Du sagst, dass du mich liebst. Vielleicht stimmt das sogar,
aber du wirst mir trotzdem weh tun. Wenn ich mich auf
dich einlasse, dann wirst du mir irgendwann mein Herz
brechen. Also mache ich Schluss, bevor es so weit ist.
Benny, Geh! Bitte."
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Benny sah mich wortlos an. Seine Augen begannen feucht
zu glitzern. Er versuchte noch einmal auf mich zuzugehen,
doch ich wich ihm erneut aus. "Geh bitte!",
wiederholte ich meine Aufforderung und diesmal drehte
er sich um und ging.
Ich stand allein in meinem Zimmer. Ich hatte genau das
bekommen, was ich wollte und trotzdem war ich unglücklich.
Ich schaute durch das Fenster in die Wüste und dann
brachen die Tränen wieder aus mir heraus. Und ich
wusste nicht, wie ich sie je wieder trocknen sollte.
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