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Was für ein eingebildeter Schnösel. Bevor ich in den heiraten würde, müssten schon sämtliche anderen Männer von der Erde verschwinden. Und selbst dann würde ich mir überlegen, ob ich nicht eher lesbisch werden sollte.

Am nächsten Morgen stand Tristan an der Staffelei und malte. Er wollte ein Porträt von Roland malen. Ich war ja eher skeptisch, aber als ich das bisher gemalte sah, verschlug es mir fast die Sprache. "Tristan, das ist ja genial! Das sieht ja schon fast wie ein Foto aus". Das was ich dort sah, war unglaublich. Tristan lächelte verlegen. "Ähm, ich glaube, ich habe ihn ganz gut getroffen".


Dann wollte ich Tristan mal lieber nicht stören. Aber wenn er mit dem Bild von Roland fertig war, sollte er noch unbedingt eins von mir und von sich selbst malen. Ich öffnete eine Wasserflasche und schenkte mir ein Glas ein. Dann schnappte ich mir die Fernbedingung und zappte durch die Kanäle, während ich einen kleinen Schluck aus dem Glas nahm.


Plötzlich verließ mich die Kraft in meiner Hand und das Glas viel zu Boden. Auf dem Laminat zersprang es in tausend Scherben und das Wasser spritzte durch das Wohnzimmer. Doch ich bekam es gar nicht mit. Ich starte auf den Bildschirm und meine Lippen formten sich zu einem Schrei. Doch ich brachte nichts als einen erstickten Laut hervor. Meine Knie gaben nach und ich sackte zu Boden, mitten in die Scherben, und versuchte weiterhin zu schreien und brachte doch keinen Ton heraus.


Roland kam aus der Küche geeilt. "Was ist passiert?", fragte er noch ganz ruhig, doch als er mich zusammengekauert auf den Boden entdeckte schwang plötzlich Panik in seiner Stimme mit. "Oxana, was ist los". Endlich schaffte ich es zu schreien, doch der Schrei ging über in ein hemmungsloses Weinen. "Oxana, was ist los?!", schrie Roland mich entsetzt an, doch ich konnte nur auf den Fernseher starren.


Roland kam sofort rüber und kniete sich runter zu mir, versuchte mich in den Arm zu nehmen und herauszufinden, was los war, doch ich wurde von Weinkrämpfen durchschüttelt und starrte immer wieder auf den Bildschirm. Schließlich schaute auch Roland hin und langsam begann er zu begreifen, was passiert war. Auf dem Bildschirm erschien das Foto von Dr. Slake Dewory aus "Wirrungen der Begierde". "Der beliebte Schauspieler, erlag vor zwei Tagen einem schweren Krebsleiden", las die Nachrichtensprecherin von ihren Notizzetteln ab. "Die Fans der erfolgreichen Seifenoper "Wirrungen der Begierde" wunderten sich schon lange über den plötzlichen Ausstieg von Dariusz Brodlowski aus der Serie. Dieses Rätsel dürfte nun seine traurige Auflösung gefunden haben. Die Beisetzung des TV-Stars findet morgen in SimCity unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dariusz Brodlowski hinterlässt einen Ehemann und seine drei Kinder Joanna, Oxana und Orion Brodlowski."


Ich saß auf dem Boden und weinte, wiegte mich hin und zurück, als ob das meinen Schmerz nehmen könnte. Paps* war tot. Er war tot! Ein erneuter Heulkrampf durchfuhr meinen Körper. Roland beugte sich zu mir hinunter und zog mich auf die Beine und ich ließ es widerstandslos zu. Dann drückte er mich ganz fest an sich und strich mir beruhigend übers Haar. "Weine so viel du willst, Oxana", flüsterte er mir zu. "Ich bin immer für dich da".


Tristan beobachtete die Szene durch die Tür des Arbeitszimmers, doch wusste er einfach nicht, wie er sich verhalten sollte. Erst als ich mich auf dem Sofa in den Schlaf geweint hatte, kam er ins Wohnzimmer und setzte sich hinzu. Roland erklärte ihm, was passiert war, zumindest so viel, wie er aus dem Nachrichtenbericht erfahren hatte. "Wie können wir ihr helfen?", fragte Tristan ehrlich besorgt. Doch Roland konnte nur ratlos mit dem Kopf schütteln. "Ihr Vater ist tot. Was können wir schon mehr machen, als einfach in ihrer Nähe zu sein, wenn sie uns braucht."


Als ich aufwachte, fühlte ich mich nur noch leer. "Ich muss jetzt alleine sein", sagte ich heiser an Tristan und Roland gewandt und ging hinüber ins Arbeitszimmer. Die beiden machten keine Anstalten, mir zu folgen und ich war dankbar dafür. Mein Vater war gestorben und ich hatte ihn im Streit verlassen. Ich konnte seine Entscheidung bei seinem prügelnden Ehemann zu bleiben einfach nicht verstehen und hab ihn seit meinem Fortgang aus SimCity nicht mehr mit ihm geredet. Er hatte immer wieder versucht, mit mir in Kontakt zu treten, doch ich hab es nicht zugelassen und jetzt war es zu spät dafür.


Das Einzige, was ich jetzt noch machen konnte, war es bei seiner Beerdigung zu erscheinen. Das war ich ihm schuldig. Zitternd wählte ich die Nummer des Flughafens in SimVegas. "Ich möchte einen Flug nach SimCity buchen", sprach ich leise. "Noch heute Abend, wenn es möglich ist".


Ich hatte Glück und es waren noch Plätze für den Nachtflug frei. Das Packen meines Koffers lenkte mich für einen kurzen Moment ab, aber dann brach ich wieder in Tränen aus. Zusammengekauert auf dem Bett liegend fand mich dann auch Benny vor, als er mein Zimmer betrat. Roland hatte ihn hergerufen. "Es tut mir ja so leid, Xana". Mit diesen Worten nah er mich in den Arm und war einfach für mich da.


Weinend erzählte ich ihm, wie es dazu kam, dass ich SimCity verlassen musste, wie es dazu kam, dass ich schließlich auch Warschau verließ, warum ich den Kontakt zu meiner Familie komplett abbrechen ließ. Er war der erste Mensch, dem ich das alles anvertraute. Und es tat mir gut, darüber zu reden. "Und du willst wirklich nicht, dass ich dich nach SimCity begleite?", fragt er. Ich löste mich aus seinem Arm und richtete mich auf. "Nein, das muss ich alleine tun", antwortete ich kopfschüttelnd und er akzeptierte es, auch wenn es ihm schwer fiel.

 

 


Benny begleitete mich noch zum Flughafen, doch die Maschine betrat ich alleine. Es war ein ruhiger Flug und die Maschine landete pünktlich in SimCity. Als ich das Flughafengebäude verließ, fror ich ein wenig. Ich hatte bereits vergessen, wie kühl die Nachtluft in SimCity sein konnte. An der Straße warteten mehrere Taxen, sodass ich kein Problem hatte eine Mitfahrgelegenheit zu finden.


Als das Taxi in das Viertel fuhr, in dem ich aufgewachsen war, fing mein Herz an zu rasen und wieder musste ich weinen. "Können sie bitte schon hier halten?", bat ich den Fahrer. Dieser fuhr rechts ran und ließ mich vor einem knallig pinken Haus aussteigen, auch wenn man das in der Dunkelheit kaum erkennen konnte.
Langsam ging ich auf die Tür zu und klopfte vorsichtig an.


Es war zwar schon spät, aber ich konnte sehen, dass im Haus noch überall Licht brannte. Also drückte ich die Türklingel und wenig später öffnete eine Frau Anfang fünfzig die Tür. Sie erkannte mich sofort. "Oxana, Schatz, komm rein", begrüßte sie mich überschwänglich. "Lass dich in den Arm nehmen. Franky!", schrei sie laut in das Haus hinein. "Oxana ist hier!". Ich war so froh, meine Patentante Sylvia wieder zu sehen, und trotzdem, oder gerade deswegen, brach ich in Tränen aus.


Tante Sylvia führte mich in die Küche und setzte sofort einen heißen Tee auf. Onkel Franky begrüßte mich ebenfalls und wir setzten uns zu dritt an den Tisch. Ich war froh, dass sie mich nicht mit Fragen löcherten. "Ich konnte einfach nicht nach Hause", erklärte ich. "Die Beerdigung morgen ... ich weiß nicht, wie ich das durchstehen soll." Ich begann zu schluchzen und meine Augen füllten sich mit Tränen. "Und ich hab einfach nicht die Kraft, Dad gegenüber zu treten. Er hat gesagt, ich solle sein Haus nie wieder betreten. Noch mehr Ärger halte ich einfach nicht aus." Tante Sylvia sah mich verständnisvoll an. "Du kannst gerne in unserem Gästezimmer schlafen", bot sie mir ohne zu zögern an. "Wir sind doch froh, wenn du bei uns bist."


Und ich war froh, hier sein zu können. Ich war so erschöpft, dass ich sofort einschlief. Ich weiß nicht, ob ich es nur geträumt hatte oder ob es tatsächlich so war, aber Tante Sylvia kam noch einmal zu mir ins Zimmer, deckte mich zu und streichelte mein Haar. Genau so hat sie es immer gemacht, als ich eine Zeit lang bei ihr wohnte, damals mit zwölf Jahren, als mein Paps Dad zum ersten Mal verlassen hatte. Und auch als ich viel Jahre später ohne Dach über dem Kopf auf der Straße stand, hat sie mich bei sich aufgenommen und sich um mich gekümmert.

* Wenn im Folgenden von "Paps" die Rede ist, dann ist Oxanas leiblicher Vater Dariusz Brodlowski gemeint. Zur Unterscheidung wird ihr anderer Vater, Arkadiusz Brodlowski, der mit Dariusz verheiratet ist, "Dad" genannt.

 

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kor. 26.10.2008