Aufgabe 22
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Doch bevor sein schlechtes Gewissen ihn zu sehr plagen kann, lockt der unerkenntliche Duft des Essens seiner Mutter Darek und seinen Vater in die Küche. Es schmeckt, keine Frage, doch Darek ist nach Warschau gekommen, um seinen Eltern etwas mitzuteilen. "Mama, Tata, ich werde mich von Arek scheiden lassen", verkündet er schließlich geradeheraus, da es für so eine Nachricht ohnehin nie den richtigen Moment gibt. "Es ist bereits alles in die Wege geleitet."


Sowohl Piotr, als auch Stanislawa hören mit dem Essen auf und starren hilflos in ihre Schüsseln. Was soll man in solch einer Situation auch sagen? Schließlich bricht Stasi das beklemmende Schweigen. "Ich hab dir doch gleich gesagt, dass du die Kleine Magda heiraten sollst. Ihr habt auch als Kinder doch immer so gut verstanden. Und sie ist doch noch immer nicht verheiratet, nicht wahr Piotr?" Sie schaut ihren Mann mit einem hilfesuchenden Blick an. "Sei doch einfach nur still, Stasia!", ist jedoch seine einzige Reaktion.


Bevor die Situation für alle noch unangenehmer wird, steht Darek schnell auf. "Ich leg mich ein wenig aufs Ohr, der Flug hat mich ganz schön erschöpft", sagt er und verlässt so schnell wie möglich die Küche. Bereits im Flur kann er hören, wie seine Eltern mit gedämpfter Stimme zu streiten beginnen und er ist sich sehr sicher, dass es dabei um ihn geht.


Darek legt sich tatsächlich hin und schläft ein paar Stunden. Der Flug hat ihn müde gemacht und außerdem quälen ihn wieder Schmerzen in der Magengegend. Doch als er am Abend aufwacht, geht es ihm wieder deutlich besser. Sein Vater sitzt vor dem Fernseher und sieht sich gerade die Abendnachrichten an. "Kann ich mit dir über etwas reden, Tato?", fragt er vorsichtig, immer noch die Situation vom Mittagessen im Hinterkopf.


"Aber sicher doch, Junge. Setz dich hin." Piotr schaltet den Fernseher aus und widmet seine ganze Aufmerksamkeit Darek. "Es, es geht um meine Ehe mit Arek", beginnt er zögerlich zu erzählen. "Hältst du es für richtig, dass ich mich von ihm trenne? Schließlich haben wir ein Gelübde abgelegt, vor Gott. Ich hab geschworen ihn zu lieben und zu ihm zu halten, in guten, wie in schlechten Zeiten. Und jetzt durchleben wir die schlechten Zeiten, sehr schlechte Zeiten. Aber hab ich das Recht ihn zu verlassen, nur weil unsere Ehe nicht einfach ist?" Darek sieht seinen Vater wie ein kleiner Junge an, der von der Allwissenheit seiner Eltern überzeugt ist.


Sein Vater schweigt eine Weile und lässt sich Dareks Worte genau durch den Kopf gehen. "Darek, was ich dir jetzt sage, soll nicht böse klingen, es ist einfach meine Meinung. Säße jetzt deine Schwester Kasia vor mir und würde mir dieselbe Frage stellen, ob sie ihren Mann verlassen soll, dann gäbe es nur eine Antwort für mich. Nein, sie sollte um ihre Ehe kämpfen, denn sie hat ein Gelübde vor Gott abgelegt." "Das haben Arek und ich auch", wirft Darek ein, doch sein Vater lässt diesen Einwand nicht zu. "Hat euch ein katholischer Priester getraut?", fragt er Darek im scharfen Tonfall. Darek kann nur resigniert den Kopf schütteln und Piotr fährt fort. "Dann hat diese ganze Sache nichts mit Gott zu tun. Es ist allein deine Entscheidung. Und nachdem, was Oxana uns alles erzählt hat", fügt er nach einer kurzen Pause hinzu, "solltest du nicht viel zu überlegen haben."


Das war eine sehr deutliche Antwort gewesen, die sein Vater ihm gegeben hat. Darek geht raus auf den Balkon und atmet die kühle Nachtluft ein. Es hat sich doch einiges in der Stadt getan, wird ihm deutlich, als er die herrliche Skyline sieht, die erst in der Dunkelheit so richtig zur Geltung kommt. Der "Palast der Wissenschaft und Kultur" ragt wie zu seinen Kindertagen in den Nachthimmel, aber es sind viele, viel neue Wolkenkratzer hinzugekommen. "Nichts ist für die Ewigkeit", seufzt er leise und geht zurück in die Wohnung.

 

 


Es wird spät in der Bar, sehr spät. Als ich aus dem Taxi steige, ist es bereits im ganzen Haus dunkel und deshalb schleiche ich mich so leise wie möglich in mein Schlafzimmer. Mein Schlafzimmer, da fängt es doch schon an. Ich sollte oben bei Darek schlafen, bei meinem Mann. Aber SIE hat ja alles kaputt gemacht. Wäre SIE nicht gewesen, dann wären Darek und ich immer noch glücklich. Und mit diesem Gedanken falle ich in einen tiefen traumlosen Schlaf.


Etliche Stunden später weckt mich ein Geräusch. Doch als ich meine Augen aufschlage, ist es verschwunden. Aber dann wieder das Geräusch. Jetzt erst erkenne ich, dass es sich um ein Klopfen an der Schlafzimmertür handelt. Noch bevor ich darauf reagieren kann, öffnet sich die Tür und Joanna tritt herein. "Dad, ist alles in Ordnung mit dir?", fragt sie beunruhigtem Unterton in der Stimme. "Es ist schon fast drei Uhr nachmittags."


Mit meinen Händen massiere ich kurz mein Gesicht und fahre mir danach durchs Haar, bevor ich mich langsam aufrichte. Mein Kopf dröhnt ordentlich und ich fühle mich in diesem Moment alles andere als gut. "Es ist alles in Ordnung", behaupte ich dennoch. "Ich hab gestern nur etwas viel getrunken." Für einen kurzen Moment huscht ein Schatten über ihr Gesicht, doch dann spricht Joanna weiter. "Paps ist nicht mehr da. Er ist noch gestern Mittag weggefahren."


"Was, er ist einfach gegangen?!", schrei ich sie plötzlich an. "Hielt er es nicht einmal für nötig, sich zu verabschieden?!" Ich werde immer lauter und immer wütender. "Wir waren 19 Jahre miteinander verheiratet und er haut einfach so ab! Und ich Idiot hab unserer gemeinsamen Zeit auch noch hinterher getrauert." Joanna schaut mich entsetzt an und versucht verzweifelt etwas zu erwidern, doch in meiner Rage lasse ich sie nicht zu Wort kommen.


Schließlich schafft sie es aber doch. "Dad, Dad bitte beruhig dich doch". Erst jetzt bemerke ich, dass sie den Tränen nahe ist und dieser Anblick beruhigt mich tatsächlich. "Er kommt doch wieder", schluchzt sie. "Er ist nur zu seinen Eltern nach Warschau gefahren."


"Oh." Mehr bringe ich in dieser Situation nicht hervor. Erst jetzt wird mir bewusst, wie ich sie angeschrien habe. Tröstend nehme ich sie in den Arm und drücke sie fest an mich. "Es tut mir Leid, Kleines. Es ist nur..." "Du brauchst mir nichts zu erklären, Dad", unterbricht sie mich schniefend. "Es ist wieder alles in Ordnung."

 

 


Dareks Schwester Kasia wohnt nur einige Plattenbauten weiter entfernt. Sein Schwager lässt ihn in die Wohnung, da Kasia noch auf der Arbeit ist und als sie kurz darauf die Wohnung betritt, ist sie nicht wenig überrascht. "Hi, Schwesterherz", grinst er sie an. "Darek, was machst du denn hier? Ich hatte ja keine Ahnung, dass du in Warschau bist. Lass dich drücken." Nach einer herzlichen Umarmung mustert sie ihn gründlich. "Du siehst irgendwie nicht gut aus." Stellt sie schließlich fest. "Fehl dir Irgendetwas?"


Darek stöhnt auf. "Warum fragt mich das bloß jeder?" Eigentlich hat Darek keine Antwort auf diese Frage erwartet, aber Kasia liefert sie ihm. "Weil es stimmt, Darek. Du siehst wirklich nicht gut aus." Darek atmet tief durch. "Ich fühle mich tatsächlich nicht sehr wohl. Die letzte Zeit war etwas stressig." Er erklärt seiner Schwester, was in den letzten Wochen alles vorgefallen ist, bis hin zur Scheidung und seiner Ankunft in Warschau. "Die ganze Sache mit Arek hat mir im wahrsten Sinne des Wortes auf den Magen geschlagen. Aber das wird schon wieder."


Die beiden gehen rüber in das Wohnzimmer und Kasia stellt ein paar Gläser und Kekse bereit, an denen Darek lustlos herum knabbert. "Wie...wie geht es Oxana?", fragt er sie schließlich. "Ich schätze, dir wird sie sich eher anvertraut haben, als unseren Eltern." Kasia hat mit dieser Frage schon die ganze Zeit gerechnet. "Was glaubst du wohl, wie es ihr geht?", antwortet sie vorwurfsvoll. "Du hast ihr sehr weh getan."


"Ich weiß", seufzt Darek leise. "Und ich schäme mich so dafür. Aber ich konnte nicht anders. In dieser Situation könnte ich einfach nicht anders handeln." Er schaut seiner Schwester flehend in die Augen. "Aber jetzt hat sich alles geändert. Ich habe sie wegen Arek weggeschickt und jetzt...jetzt verlasse ich ihn. Wie soll ich ihr jetzt jemals wieder unter die Augen treten?" Beschämt wendet er sich von Kasia ab.


Doch Kasia macht Darek keinen Vorwurf. "Das war wirklich keine deiner Glanzleistungen, Brüderchen. Wirklich nicht", seufzt sie und streicht mitfühlend über seine Schulter. "Wird sie mir verzeihen?", fragt Darek vorsichtig, "Irgendwann?" "Das wird sie", antwortet Kasia. "Aber lass ihr Zeit damit. Die braucht sie."


Beide setzen sich auf die Couch und schweigen eine Weile. "Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen", meint Darek schließlich. "Früher war alles so viel einfacher. Um 20 Jahre zurückdrehen, nein 21", verbessert er sich. Kasia sieht ihn überrascht an. "Aber, da saßt du doch gerade im Gefängnis." Darek nickt mit dem Kopf. "Ja. Und es war die glücklichste Zeit in meinem Leben."

 

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kor. 10.02.2011