Aufgabe 19 1/2
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19 1/2."Kid ist weg - und nun?!"


Ich habe das nicht erwartet. Ich habe nicht erwartet, dass es so weh tut. Mit jedem Schritt, der mich von dem Haus wegführt, in dem ich mein ganzes Leben verbracht habe, spüre ich, wie meine Beine immer schwächer werden, wie es mir immer schwerer fällt, weiter zu gehen. Ich habe mir vorgenommen nicht zurückzuschauen, doch jetzt kann ich nicht anders. Ich drehe mich langsam um und am Ende der Straße sehe ich das Haus, das nicht mehr mein Zuhause ist... nicht mehr mein Zuhause sein kann.


Und innerhalb von Sekunden füllen sich meine Augen mit Tränen, die mir in kleinen Bächen über die Wangen laufen. Sofort folgt ein Schluchzer, der zu einem verkrampften Schrei der Verzweiflung wird. Meine Knie geben nach und ich sitze wie ein kleines Häufchen Elend auf der Straße und heule ohne irgendetwas um mich herum wahrzunehmen.


Am liebsten würde ich zurücklaufen und Dad um Verzeihung anflehen, ihn bitten mich wieder aufzunehmen, ihm sagen dass es mir leid tut. Und ich hätte es auch fast getan. Doch tief in meinem Herzen weiß ich, dass mir nichts leid zu tun braucht. Nicht ich habe einen Fehler begangen, sondern Dad. Wenn sich einer entschuldigen muss, dann er bei mir. Als mir das klar wird, kehrt auch die Entschlossenheit, die ich beim Packen meiner Sachen hatte zurück und ich steh auf. Nein, Dad hat mich nicht rausgeworfen. Ich bin selber gegangen, weil ich ihn nicht mehr ertragen konnte.


Gut, entschlossen bin ich. Aber wo soll ich jetzt hin? Ich will meine Mutter finden, aber alles was ich habe ist die Adresse einer Freundin in Simtropolis. Dort muss ich hin, wenn ich sie finden will. Die Frage ist nur, wie ich das anstelle ohne einen einzigen Simoleon in der Tasche. Und so laufe ich erst einmal immer weiter. Solange ich laufe, brauche ich mir über die Zukunft keine Gedanken zu machen. Ich laufe und laufe, bis plötzlich das Haus von Tante Sylvia und Onkel Frankie in Sichtweite kommt und ohne weiter darüber nachzudenken, steuere ich darauf zu.


Als ich dann vor der Haustür stehe kommen mir dann doch Zweifel und ich zöger zu klingeln. Was genau erwarte ich denn von Tante Sylvia? Und wird sie mir überhaupt helfen wollen? Und noch während ich nachdenke, öffnet sich die Haustür und Tante Sylvia steht vor mir. "Oxana? Warum klingelst du denn nicht? Ich hab dich durch das Fenster gesehen und... bin..."


Tante Sylvia stockt plötzlich beim Sprechen und sieht mich erschrocken an, was dazu führt, dass ich erschrocken zurückschaue und ein paar Schritte zurückweiche. "Kind, was ist passiert?", fragt sie mich und berührt mich fürsorglich am Oberarm. Woher weiß Tante Sylvia bloß, dass etwas passiert ist? Doch als ich ihr perfekt geschminkten Augen sehe wird mir klar, dass meine Augen alles andere als perfekt aussehen.


Doch ich komme gar nicht dazu, etwas zu erklären. Tante Sylvia zieht mich in das Haus hinein und führt mich direkt in die Küche, drückt mich auf einen Stuhl und stellt eine Tasse heiße Schokolade vor mich hin. "Trink erst einmal etwas", sagt sie während sie sich selbst einen Kaffee eingießt, "und dann erzählst du mir in Ruhe, was passiert ist."


"Dad hat mich von zuhause rausgeworfen", beginne ich zu erzählen, als Tante Sylvia sich gesetzt hat. "Arek hat die aus dem Haus geworfen?" Tante Sylvia kann gar nicht glauben, was sie da gerade hört. "Hast du ihn auch richtig verstanden?" " 'Du bist nicht mehr meine Tochter. Verlass sofort mein Haus', das waren genau seine Worte. Ich glaube nicht, dass man da etwas falsch verstehen kann." Tante Sylvia schüttelt die ganze Zeit ihren Kopf und fasst sich dann fassungslos an die Stirn: "Was ist denn bloß in ihn gefahren? Arek ist kein Engel, aber das sieht ihm doch nicht ähnlich."


"Nein, Dad ist alles andere als ein Engel", schnaube ich verächtlich. "Und der Alkohol tut noch sein Übriges." Tante Sylvia kann nicht mehr ruhig sitzen bleiben. "Arek trinkt? Warum habt ihr nie etwas gesagt? Ich bin Psychologin. Ich kenne einige gute Therapeuten." "Ich glaube kaum, dass Dad sich helfen lassen will. Und um ehrlich zu sein ist er mir auch scheiß egal. Er ist ein Schwein, ganz egal ob er trinkt oder nicht!" Der Gedanke an ihn lässt mich wütend werden und ich werde lauter, als ich es beabsichtigt habe.


"Was hat er dir angetan, dass du ihn so sehr verachtest?" fragt Tante Sylvia. "Mir hat er nichts getan. Aber Paps. Du müsstest doch am besten wissen, wie er ist, Tante Sylvia. Du bist mit ihm verheiratet gewesen und er hat dich wie Dreck behandelt. Und das gleiche macht er jetzt mit Paps. Das konnte ich doch nicht zulassen." Tante Sylvia verschränkt die Arme und hört mir aufmerksam zu. "Er betrügt Paps. Nicht nur mit Lucy oder Olav, da gibt es unzählige Affären. Und Paps lässt sich das gefallen. Schon das habe ich kaum ertragen. Paps hat es nicht verdient so behandelt zu werden. Ich weiß nicht warum, aber Paps liebt Dad und dieses Schwein tritt seine Gefühle mit Füßen. Und mit Fäusten. Er hat Paps zusammengeschlagen. Und damit ist er zu weit gegangen. Das konnte ich nicht hinnehmen. Wenn er anfängt Paps zu schlagen, wie lange wird es dann dauern bis er Joanna und mich schlägt? Oder noch schlimmer, wenn er sich an Orion vergeht? Der Kleine kann sich doch gar nicht wehren. Also hab ich die Polizei gerufen und die haben ihn mitgenommen. Paps hätte ihn nur anzeigen müssen und wir hätten endlich Ruhe vor ihm gehabt, aber er hat es nicht getan. Er hat ihn zurückkommen lassen. Und er hat zugelassen, dass Dad mich aus dem Haus wirft." Plötzlich breche ich wieder in Tränen aus. "Er hat einfach nur dagesessen und nichts unternommen. Er hat sich nicht einmal von mir verabschiedet." Die letzten Worte gehen völlig in meinem Geschluchze unter.


Tante Sylvia zögert nicht lange und nimmt mich in den Arm. Und ich heule immer weiter und lasse alle Wut auf Dad heraus. Und all den Zorn auf Paps, dafür, dass er mich hat einfach gehen lassen. Tante Sylvia braucht nichts zu sagen. Ihre Umarmung allein hilft mir in diesem Moment mehr als tausend Worte.


Und als ich mich wieder beruhigt habe, geht es mir auch gleich wieder besser und ich atme tief durch. Ich muss sogar lächeln. "Du musst mich jetzt für eine Heulsuse halten, Tante Sylvia", sage ich und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. "Nein, Schatz, keines Wegs. Du kannst erst einmal bei uns bleiben. Das Gästezimmer verstaubt sonst ja ohnehin nur. Du weißt ja noch, wo alles ist. Schlaf dich richtig aus. Morgen sieht vielleicht schon wieder alles besser aus."


Ja, Schlaf ist jetzt genau das, was ich brauche. Allerdings wird morgen noch immer alles genau so aussehen wie heuten. Aber ich hab keine Kraft mehr darüber nachzudenken. Zumindest nicht heute. Morgen ist auch noch ein Tag.


Doch wirklich gut schlafen kann ich nicht. Kaum liege ich im Bett, ist die anfängliche Erschöpfung vorüber. Ich liege in meinem Bett und walze mich herum. Als ich in die Küche gehe um mir ein Glas Wasser zu holen, bemerke ich, dass Tante Sylvia mit jemandem telefoniert und ich bleibe in der Tür stehen. Ich will zwar nicht lauschen, aber weghören kann ich auch nicht. "Wie konntest du sie nur gehen lassen!? Sie ist deine Tochter!", Tante Sylvia scheint sehr aufgebracht zu sein und ich bekomme das Gefühl, dass es in dem Gespräch um mich geht. "Und das ist ein Grund sie gehen zu lassen? Die Polizei zu rufen war das einzig Richtige! - Pause - Mir ist klar das Arek das anders sieht! Ich fasse es einfach nicht, dass du dich so auf seine Seite stellst." Und dann wird es längere Zeit still und Tante Sylvia hört Paps (ich vermute zumindest, dass er es ist) zu. "Du hättest sie trotzdem nicht gehen lassen dürfen", sagt sie schließlich deutlich ruhiger. "Ich glaube es hat sie sehr verletzt, dass du sie so abweisend behandelt hast. - Pause - Willst du ihr das nicht selber sagen? - Pause - Ok, ich richte es ihr aus, aber ich denke immer noch, dass du falsch handelst." Und dann legt sie auf.


"Was sollst du mir ausrichten?" Tante Sylvia dreht sich erschrocken um, als sie meine Stimme hört. "Oxana! Wie lange hast du schon zugehört?" "Eine Weile. Du hast mit Paps gesprochen, nicht wahr? Ich kann nicht zurück, stimmt’s." Und wieder füllen sich meine Augen mit Tränen, aber diesmal schaffe ich es sie halbwegs zu unterdrücken.


Tante Sylvia schüttelt traurig den Kopf. "Darek meint, dass Arek das niemals zulassen wird. Ich kann Darek einfach nicht verstehen, dass er nach allem was du erzähl hast zu ihm hält. Aber er liebt dich Oxana, da bin ich mir sicher. Er kann es dir nur nicht sagen, nicht nachdem, was gerade passiert ist." Ein kleines Lächeln huscht über meine Lippen. "Und wo soll ich jetzt hin?", frag ich Tante Sylvia, denn einen Weg zurück gibt es nicht mehr. "Du kannst hier bleiben solange du willst. Darek hat dir Geld auf dein Konto überwiesen, damit du von etwas leben kannst. Er möchte, dass du nach Warschau fliegst, zu deinen Großeltern. Er hat schon mit ihnen gesprochen. Sie warten auf dich."


Und die nächsten Tage bleibe ich tatsächlich bei Tante Sylvia und Onkel Frankie. Die beiden sind zwar super lieb zu mir und würden mich gerne bei sich aufnehmen, aber mir wird schnell klar, dass ich nicht in SimCity bleiben kann. Es tut viel zu sehr weh, so nah bei Paps, Joanna und Orion zu leben und sie nicht sehen zu dürfen. Und es tut weh, dass Paps nicht vorbeikommt um mich zu sehen, obwohl er genau weiß wo ich bin. Und wenn es nur wäre, um sich zu verabschieden.


Doch das wird Paps nicht machen. Also werde ich zu meinen Großeltern nach Warschau fahren. Was sonst bleibt mir den auch übrig? Und deshalb wird auch gleich ein Flug gebucht. "Pass gut auf dich auf Oxana. Und melde dich sofort, wenn du in Warschau angekommen bist." Jetzt ist es Tante Sylvia die beim Abschied zu weinen beginnt und um ehrlich zu sein, mir geht es nicht anders. Ich werde sie und Onkel Frankie vermissen.


Das heißt wohl Abschied nehmen von SimCity. Onkel Frankie hilft mir noch, meine Tasche in den Bus zu tragen, der mich zum Flughafen fährt. Und dann kann ich nur noch beobachten, wie der Bus wegfährt und Tante Sylvia und Onkel Frankie mir hinterher winken. Warschau ich komme!

 

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kor. 24.01.2011