Aufgabe 19 1/2
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Novosimbirsk in Simbirien


Das Ticket nach Novosimbirsk ist alles andere als günstig. Ich muss satte 937§ für eine Strecke bezahlen und darf gleich dreimal Umsteigen. Aber das ist es mir Wert, wenn ich dadurch zu Mom finde. Und 20 Stunden später landet die klapprige Tupolew der Simbirischen Aeroflot, die noch aus alten sowjetischen Beständen zu stammen scheint, in Novosimbirsk. Das erste, was ich bemerke, ist die eisige Kälte. Also suche ich am Flughafen gleich einen Stadtplan, um ein Geschäft mit Wintermänteln zu finden.


Und nicht weit vom Flughafen entfernt finde ich einen kleinen Laden. Weiter als die paar Meter hätte ich ohnehin nicht laufen können, denn die ganze Stadt ist eingefüllt in eine dicke, weiße Schneedecke und es herrschen hier eisige Temperaturen. Das letzte Mal dass ich Schnee zu Gesicht bekommen habe, war zu Weihnachten vor 6 Jahren! Und daher stört es mich auch nicht, dass die Auswahl an Wintermänteln in diesem Laden nicht die Größte ist. Na, wenigstens ist es billig.


Gerüstet für die Eiseskälte mache ich mich auf den Weg zu der Adresse, die ich von Anastasia bekommen habe. Und nach einer abenteuerlichen Busfahrt quer durch die Stadt, finde ich tatsächlich das Haus, in dem meine Mom wohnt. Oder zumindest in dem sie wohnen sollte. Denn an dem Türschild steht ein anderer Name. Das hat zwar nichts zu bedeuten, allerdings öffnet niemand die Tür, sodass ich nicht nachfragen kann.


Ich warte und warte, aber in dem Haus tut sich nichts und ich spüre bereits, wie die Enttäuschung in mir aufsteigt. Da bemerke ich, dass ein Mann in dem Kiosk auf der gegenüberliegenden Straßenseite nach mir ruft. "Sie wollen zu mir?", fragt er mich und dank meiner akzeptablen Polnischkenntnisse und der zwei Jahre Russischunterricht an der Schule, zu denen Paps Joanna und mich verdonnert hat, kann ich ihn einigermaßen verstehen und ihm sogar antworten. "Ich suche eine Frau, Virginia Twain. Sie soll in diesem Haus wohnen." Der Mann kann sich ein Grinsen über meine hervorragenden Sprachkenntnisse nicht verkneifen. "Tut, mich leid Mädchen. In dieser Haus wohnt nix Virinia Twain. Seien mein Haus." Diese Worte sind ein Schock für mich. Wenn Mom nicht mehr hier wohnt, dann werde ich sie niemals finden. Aber der Kioskverkäufer spricht noch weiter. "Aber vor mich haben gewohnt hier Frau. Virginia Moskawskaia. Vielleicht seien sie selbe Virginia. Sie jetzt haben klein Hotel ein paar Straße weiter."


Ich bedanke mich überglücklich bei dem Mann und mache mich sofort auf dem Weg zu dem Hotel. Diese Virginia Moskowskaia muss Mom sein. Es kann kein Zufall sein, dass zwei Virginias in demselben Haus gelebt haben, vor allem da Virginia kein typischer simbirischer Name ist. Mom hat sicher geheiratet und heißt jetzt anders, daran hätte ich denken müssen. Und nach einer knappen halben Stunde stehe ich vor der Pension Moskawskaia.


Obwohl ich meinem Ziel jetzt so nah bin, zögere ich plötzlich. Was soll ich Mom denn sagen? 'Hallo hier bin ich, deine Tochter, die du seit der Geburt nicht gesehen hast?' Und es befallen mich Zweifel. Was ist, wenn Anastasia Recht hatte? Was wenn Mom Joanna und mich einfach nicht sehen wollte, weil wir ihr egal waren...und es immer noch sind? Ich kann ihr nicht einfach so gegenübertreten. Ich muss sie zuerst besser kennenlernen. Und deshalb gehe ich in die Pension und checke unter falschem Namen ein.


Und als ich mich umdrehe, steht sie plötzlich vor mir: Mom! "Oh, ein Gast aus der SimNation. Es passiert nur selten, dass sich jemand von so weit her in meine Pension verirrt. Mein Name ist Virginia Moskawskaia und ich führe dieses Haus hier". Sie reicht mir ihre Hand und ich ergreife sie wie in Trance. "Ich bin Oxa…ich meine Olivia Newton." Das war knapp, denn beinah hätte ich meinen falschen Namen vergessen und Mom hätte sofort gewusst, wer ich bin.


"Ich bringe sie in ihr Zimmer", sagt sie, nachdem sie meine Hand losgelassen hat. Das Zimmer ist zwar relativ einfach eingerichtet, aber es ist warm und sauber und irgendwo muss ich ja ohnehin schlafen. "Sie sind zur Zeit der einzige Gast", erklärt Mom mir bevor sie das Zimmer verlässt. "Das Essen ist in einer Stunde fertig, kommen sie dann einfach in den Speisesaal." Ich nicke und sie verlässt den Raum.


Als sie den Raum verlassen hat, fasse ich mir verzweifelt an den Kopf. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien, aber das hätte zu viel Aufsehen erregt. Endlich habe ich meine Mom gefunden und ich kann ihr einfach nicht sagen, wer ich bin. Und sie hat mich nicht erkannt. Ich weiß, dass sie das gar nicht kann, ich war ja schließlich noch ein kleines Baby, als sie mich das letzte Mal gesehen hat. Aber ich habe gehofft, dass sie spürt wer ich bin, dass sie wenigstens eine Ahnung hat. Aber sie hat sich nichts anmerken lassen. Gar nichts!


Als ich dann am Abend in den Speisesaal komme, sitzt Mom bereits an einem der Tische und winkt mich zu sich herüber. "Setzen sie sich zu mir. Es macht keinen Spaß alleine zu essen." Wir unterhalten uns ein wenig und Mom erzählt mir wie das Geschäft zurzeit läuft. Eigentlich interessiert es mich nicht, aber ich höre ihr trotzdem gerne zu.


Am nächsten Morgen bietet sie mir dann an, eine Wanderung in den Wäldern um Novosimbirsk zu unternehmen. Und da ich jede Gelegenheit nutzen will, sie kennenzulernen, willige ich ein. "Ich wandere sehr gerne. Die Ruhe in den Wäldern ist einfach unbeschreiblich", erklärt sie mir. "Deshalb versuche ich den Touristen die wilde Schönheit Simbiriens zu zeigen. Sie haben Glück, Olivia, dass zurzeit nicht zu viel Schnee liegt, sonst kämen Wir gar nicht voran." Nicht zu viel Schnee? Ich höre wohl nicht richtig? Soll das etwa heißen, hier liegt sonst noch mehr?


Ich muss zugeben, dass die schneebedeckte Landschaft tatsächlich schön ist, aber es ist einfach viel zu kalt. Ich bin froh, als wir endlich wieder in der Pension ankommen und ich meine tiefgefrorenen Zehen auftauen kann. Mom setzt sich zu mir ans Feuer und wärmt sich ebenfalls auf. "Was treibt Sie so alleine nach Novosimbirsk? Und das noch zu dieser Jahreszeit", fragt sie mich. "Ich muss mir über etwas klarwerden", antworte ich ihr. "Ich...ich bin schwanger und weiß nicht ob ich das Kind haben möchte." Oh, mein Gott, was erzähle ich da! Ich weiß selber nicht wie ich darauf komme. "Können Sie das verstehen, Frau Moskawskaia?"


"Nennen Sie mich ruhig Virginia", antwortet sie mir. "Wenn Wir schon über solch ernste Dinge reden, dann sollten Wir uns auch beim Vornamen ansprechen." Ich lächele und nicke Ihr zu. "Was ist denn mit dem Vater des Kindes, Olivia. Wie steht er dazu?" "Er weiß es nicht", antworte ich schnell, "und es ist auch besser so. Selbst wenn ich das Kind behalte, er soll nichts damit zu tun haben." Wir beide schweigen eine Weile und starren in das Feuer. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass Mom dieses Gespräch unangenehm ist. "Haben Sie Kinder?", frage ich schließlich.


"Nein, ich habe keine Kinder", antwortet sie ohne zu zögern. "Ich habe nie welche gewollt." "Und ihr Mann, wollte er nie welche?" frage ich vorsichtig und ich muss mich zusammenreisen meine Stimme fest klingen zu lassen. Es tut nämlich weh, wenn die eigene Mutter einen verleugnet. "Mein Mann ist schon vor vielen Jahren gestorben. Aber er wusste, wie ich dazu stand. Das habe ich ihm von Anfang an klar gemacht. Ich will sie nicht beeinflussen, Olivia, aber für mich bedeuten Kinder einfach eine zu große Last. Ich liebe meine Freiheit und ein Kind würde sie mir nehmen. Selbst wenn sie Erwachsen sind, so ganz lösen sie sich nie von den Eltern. Ich war insgesamt drei Mal schwanger und habe keins der Kinder behalten und ich bereue es nicht. Nein Olivia, Kinder sind nichts für mich. Ich bin froh, dass ich keine habe."


Ihre Worte treffen mich wie eine Faust ins Gesicht. Sie wollte mich niemals haben! Meine eigene Mutter wollte mich nicht! Tränen schießen in meine Augen und ich kann nicht mehr auf dem Sofa sitzenbleiben. "Ist alles in Ordnung?", fragt Mom mich besorgt. Nein es ist nichts in Ordnung, gar nichts, nur kann ich es ihr nicht erklären. "Jaja, es geht schon. Ich bin nur müde", entgegne ich ihr mit so viel Kraft in der Stimme, wie ich sie aufbringen kann und mache mich auf den Weg in mein Zimmer.


Als ich in das Zimmer komme, schmeiße ich mich einfach auf das Bett und weine. Es ist mir egal, ob mich jemand hört. Ich muss meinen Schmerz und meine Verzweiflung einfach herauslassen. Irgendwann schaffe ich es mich auszuziehen und ins Bett zu legen, aber schlafen kann ich nicht. Immer wieder steigen die Tränen in mir auf. Keiner meiner Eltern liebt mich und dabei habe ich drei. Dad ist einfach nur ein Schwein, von ihm habe ich nichts anderes erwartet. Er liebt niemanden, nur sich selbst. Aber Paps und Mom, sie sollten mich lieben, doch beide haben mich zurückgestoßen, keiner von den beiden will mich haben. Und wieder breche ich in Tränen aus.


Am Morgen packe ich sofort meine Sachen zusammen. Es gibt nichts mehr, was mich noch in Simbirien hält. Mom wollte und will mich nicht, also habe ich auch keinen Grund ihr zu sagen, wer ich bin. Nach SimCity kann ich nicht zurück. Also bleibt mir nur noch Warschau. Vielleicht wollen meine Großeltern mich. Ich hoffe es so sehr.


Und eigentlich wollte ich gehen, ohne Mom noch einmal sehen zu müssen. Doch dann kann ich es nicht. Ich warte so lange, bis sie in den Eingangsbereich kommt. "Es ist Zeit für mich zu gehen", erkläre ich ihr und will ihr zum Abschied die Hand reichen. Doch sie nimmt mich stattdessen in den Arm. "Kommen Sie bald wieder, Olivia. Es kommt mir so vor, als ob Wir uns schon lange kennen würden. Und wegen dem Baby: Tun Sie nur das, was für Sie richtig ist. Ihnen stehen alle Optionen offen. Alle. Lassen Sie sich von niemandem etwas anderes sagen. Ihr Körper gehört Ihnen allein." Ich hab schon meine Tasche in der Hand und bin zum gehen bereit, als ich mich noch einmal umdrehe. "Virginia, tun Sie mir noch einen gefallen?" "Was immer Sie wollen."

 

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kor. 24.01.2011