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Ohne ein weiteres Wort lauft sie die Stufen zur Veranda hinauf
und hinein in das Haus. Als Joanna oben ankommt, ist die Tür
bereits verschlossen und jedes Klopfen bleibt unbeantwortet. Sie
will gerade gehen, als sich die Tür erneut einen Spalt weit
öffnet. "Geht es ihm denn gut?", fragt Lucy besorgt.
Joanna nickt mit dem Kopf. Dann schließt die Tür sich
wieder.
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Joanna wartet noch einige Minuten, doch die Tür bleibt verschlossen.
Plötzlich fällt ihr ein Foto ein, dass sie immer bei
sich trägt. Es zeigt Orion bei seinem ersten Tag in der Vorschule
im letzten Sommer. Sie schiebt es vorsichtig unter der Tür
hindurch. Von außen kann sie hören, wie jemand sie
der Tür nährt und das Bild aufhebt. Und dann hört
sie ein leises Schluchzen, doch die Tür bleibt verschlossen.
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Auf dem Rückweg zum Flughafen gehen Joanna viele Dinge durch
den Kopf. Wovor hat Lucy solch eine Angst gehabt oder besser gefragt,
vor wem? Wer ist diese Unbekannte, von der sie gesprochen hat?
Egal wer sie ist, sie muss Lucy eine Heidenangst eingejagt haben,
denn sie hat es schließlich geschafft, dass eine Mutter
ihr Kind im Stich lässt.
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Doch ihr bleibt nicht viel Zeit für solche Überlegungen.
Der Hochzeitstermin rückt immer näher und es müssen
noch viele Dinge organisiert werden. Einladungen wollen verschickt
werden, der Partyservice muss organisiert werden und natürlich
darf man das Wichtigste nicht vergessen: das Kleid!
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Aber als sie im Geschäft steht und all die schönen Kleider
anprobiert, wird ihr so richtig bewusst, dass jemand an ihrer
Seite fehlt. Oxana sollte bei ihr sein. Die beiden haben als Kinder
immer von ihrer Hochzeit geträumt. Eine große Doppelhochzeit
sollte es werden. Niemals hätte Joanna gedacht, dass ihre
Zwillingsschwester bei diesem großen Ereignis nicht dabei
sein wird.
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DeshalbBeschließt sie ihre Schwester anzurufen. "Xana,
ich werde heiraten", verkündet sie die gute Nachricht.
"Und ich möchte, dass du auch dabei bist. Du musst meine
Trauzeugin sein". Oxana schweigt. "Er wird auch da sein,
hab ich recht?", fragt sie schließlich. Joanna weiß
sofort wen sie meint. "Natürlich wird Dad dabei sein.
Er ist doch unser Vater."
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"Dann wirst du verstehen, dass ich nicht kommen kann",
erklärt Oxana. Doch so leicht lässt Joanna sich nicht
abwimmeln. "Xana, du musst kommen. Kannst du Dad nicht endlich
verzeihen?" "Nein!", antwortet sie ohne zu zögern.
"Xana, bitte!", fleht Joanna sie an. "Und wenn
nicht mir zuliebe, dann tu es für Paps. Du solltest wirklich
so schnell wie möglich kommen, denn..." Doch Oxana hört
ihr nicht zu. "Ich kann es einfach nicht!", flüstert
sie ins Telefon und legt einfach auf. Joanna versucht noch einige
Male sie anzurufen, doch es geht niemand ran.
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Schließlich ist der große Tag gekommen. Joanna, Tobias
und Darek sind bereits in der Kirche und treffen die letzten Vorbereitungen
für die Trauung. Auch ich will mich gerade auf den Weg machen,
als es an der Tür klingelt. Durch die Scheibe kann ich eine
junge Frau erkennen, etwa Anfang zwanzig, die vor dem Haus wartet.
Ob es eine Freundin von Joanna ist, die zur Hochzeit will?
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Doch ich komme nicht dazu sie danach zu fragen. Als ich die Tür
öffne, verzieht sie ihre hübschen Lippen zu einem Schmollmund.
"Also wirklich, Bruderherz. Wie konntest du mich zu der Hochzeit
meiner eigenen Nichte nicht einladen?" Ich starre sie entgeistert
an. Bruderherz? Nichte? Wovon redet die Irre da?
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Sie kann mir die Verwirrung deutlich ablesen. "Jetzt bin
ich aber enttäuscht, Arek", seufzt sie übertrieben.
"Ich habe so sehr gehofft, dass zwischen uns ein so enges
Band herrscht, dass du deine kleine Schwester sofort erkennst.
Ich bin Ewa."
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Mein erster Impuls ist es diese unverschämte Lügnerin
auf der Stelle von meinem Grundstück zu verjagen. Doch plötzlich
sehe ich es. Dieselben Augen, derselbe Mund. Diese Frau, die behauptet
meine Schwester zu sein, ist meiner Mutter wie aus dem Gesicht
geschnitten. Ich kann sie nur verdutzt anstarren.
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Sie nutzt meine Verwirrung und schlüpft an mir vorbei ins
Haus. "Ganz nett hier", bemerkt sie auf ihrem direkten
Weg ins Esszimmer. "Ich habe nur etwas...Größeres
erwartet." Dann setzt sie sich hin und starrt mich auffordernd
an. "Du könntest mir ruhig einen Kaffee anbieten, findest
du nicht?"
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Ich tue, was sie verlangt und komme mit zwei dampfenden Tassen
zurück. "Wie ist das möglich?", frage ich
sie. "Hat Mutter noch einmal geheiratet?" Ewa beginnt
zu kichern. "Noch einmal geheiratet? Wo denkst du hin Bruderherz.
Nein, wir beide haben dieselbe Mutter und denselben Vater."
"Aber...", versuche ich einzuwenden, doch Ewa ist schneller.
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"Aber Mutter und Vater haben sich nicht mehr gesehen seit
der Flucht von Kuba? Das glaubst aber nur du, Arek." "Wie
alt bist du?", frage ich sie und fange mir für diese
Frage einen bösen Blick ein. "Hey, so etwas fragt man
eine Frau beim ersten Treffen nicht. Aber ich will dir verzeihen,
schließlich bist du ja mein Bruder. Ich werde in zwei Wochen
fünfundzwanzig."
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In meinem Kopf beginnt die Rechenarbeit und wieder kann ich sie
nur ungläubig anstarren. "Richtig gerechnet, Bruderherz.
Ich bin gezeugt worden drei Monate bevor du in den Knast gewandert
bist. Und ich kann dir verraten, dass es keine einmalige Liebesnacht
unserer geliebten Eltern war, die dazu geführt hat."
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Sie schiebt mir einen Ausweis zu. Ewa Justyna Brodlowska
ist darauf zu lesen. Geburtsort Warschau und auch das Geburtsdatum
stimmt. Ich halte den Ausweis schräg ins Licht und die üblichen
Sicherheitsmerkmale erscheinen. Ewa entgeht mein kritischer Blick
keineswegs. "Keine Angst, Bruderherz", beruhigt sie
mich, "mein Ausweis ist echt. Zumindest dieser hier."
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"Warum bist du hier Ewa? Warum tauchst du nach 25 Jahren
plötzlich in meinem Leben auf?" "Warum denn gleich
Hintergedanken, Arek?" Sie sieht mich mit ihren Unschuldsaugen
an. "Kann es nicht sein, dass ich dich endlich einmal besuchen
wollte?" Ihr Blick ist für einige Sekunden absolut ernst,
doch dann brechen wir beide in schallendes Gelächter aus.
Ich kenne meine Schwester zwar erst ein paar Minuten lang, doch
weiß ich jetzt schon, dass sie nie etwas ohne Hintergedanken
tut.
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"Ich bin hier, weil sie es nicht will, Arek", beginnt
sie zu erzählen. "Unser liebes Mamilein wird vor Wut
kochen, wenn sie erfährt, dass ich bei dir bin. Und sie wird
es erfahren, da bin ich mir sicher." "Wo ist sie?",
frage ich. "Genau weiß ich es auch nicht. Aber wenn
Dad hier in SimCity ist, dann wird sie nicht weit sein. Die beiden
trennen sich nie lange." Ich kann nicht fassen, was ich da
höre. Mein Dad wusste also die ganze Zeit, wo meine Mutter
steckt. Was hat er mir dann noch alles verschwiegen?
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"Ich hab nie wirklich viel mit den beiden zu tun gehabt",
fährt sie in ihrer Geschichte fort. "Als ich klein war,
haben sich Kindermädchen um mich gekümmert. Dann bin
ich auf ein Internat in der Schweiz gegangen und hab an der U.C.
in Sacramento studiert. Ich beschwere mich nicht. Mein Leben ist
toll...war toll. Aber jetzt hat sie mir den Geldhahn abgedreht.
Ich soll lernen auf eigenen Beinen zu stehen und so ein Blabla.
Kannst du das fassen? Aber das kann sie mit mir nicht machen.
Nicht, mit mir!"
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